Nach einem leichten Auffahrunfall forderte eine Frau 550.000 Euro und behauptete, die Kollision habe eine seltene, schwere Autoimmunerkrankung ausgelöst. Die zentrale Frage vor Gericht war, ob für diesen schwerwiegenden Folgeschaden der strenge Beweismaßstab des Zivilrechts Anwendung findet.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Kann ein Autounfall schwere Autoimmunerkrankungen auslösen?
- Wann haftet der Unfallgegner für Folgeschäden?
- Warum scheiterte der Nachweis der Kausalität?
- Wie hoch ist das Schmerzensgeld bei leichtem HWS-Syndrom?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann muss der Unfallverursacher für meine späteren, schweren Krankheiten aufkommen?
- Wie lange nach dem Unfall kann ich Schmerzensgeld für HWS-Schmerzen geltend machen?
- Wann gilt die Beweiserleichterung (§ 287 ZPO) für Spätschäden nach einem Auffahrunfall?
- Reicht die zeitliche Nähe als Beweis aus, wenn der Arzt keinen Mechanismus findet?
- Wie hoch fällt mein Schmerzensgeld aus, wenn nur die HWS-Verletzung anerkannt wird?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 14 U 163/24 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Celle
- Datum: 28.03.2025
- Aktenzeichen: 14 U 163/24
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Haftungsrecht, Verkehrsrecht, Beweisrecht
- Das Problem: Eine Frau forderte nach einem Auffahrunfall umfangreichen Schadensersatz von den Verursachern. Sie behauptete, der Unfall habe eine langanhaltende HWS-Verletzung und die seltene Autoimmunerkrankung TTP ausgelöst. Das Landgericht hatte nur ein geringes Schmerzensgeld zugesprochen und die übrigen Forderungen abgewiesen.
- Die Rechtsfrage: Kann bewiesen werden, dass der relativ leichte Auffahrunfall die Ursache für die dauerhaften Halswirbelbeschwerden und die später aufgetretene schwere Autoimmunerkrankung war?
- Die Antwort: Nein. Das Gericht wies die Berufung zurück und bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Es sah nur eine leichte Halswirbelverletzung I. Grades als unfallbedingt an, deren Beschwerden höchstens eine Woche andauerten. Ein kausaler Zusammenhang zur schweren Autoimmunerkrankung TTP konnte auch unter erleichtertem Beweismaß nicht festgestellt werden.
- Die Bedeutung: Der Fall bekräftigt, dass Geschädigte den Ursachenzusammenhang (Kausalität) zwischen Unfall und Primärverletzung streng beweisen müssen. Eine rein zeitliche Nähe oder die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs reicht für die Haftung nicht aus.
Kann ein Autounfall schwere Autoimmunerkrankungen auslösen?
Der Fall beginnt beinahe klassisch, entwickelt sich jedoch zu einem medizinischen und juristischen Marathon. Am späten Nachmittag eines Tages im Jahr 2016 kam es zu einem Auffahrunfall, in den die spätere Klägerin verwickelt war. Was zunächst nach einem typischen Blechschaden aussah, wurde zur Grundlage eines jahrelangen Rechtsstreits vor dem Oberlandesgericht Celle (Aktenzeichen 14 U 163/24, Beschluss vom 28.03.2025). Die geschädigte Autofahrerin machte geltend, dass der Unfall nicht nur ein klassisches Schleudertrauma (HWS-Distorsion) verursacht habe, sondern auch der Auslöser für eine seltene, lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung namens Thrombotisch-Thrombozytopenische Purpura (TTP) gewesen sei.

Der Streitwert in der Berufungsinstanz summierte sich auf bis zu 550.000,00 Euro, da die Klägerin neben Schmerzensgeld auch Verdienstausfall, Haushaltsführungsschaden und zukünftige Behandlungskosten einforderte. Die Beklagten, also die Gegenseite, bestritten diesen Zusammenhang vehement. Das Landgericht Hannover hatte der Frau zuvor lediglich Reparaturkosten von rund 450 Euro und ein Schmerzensgeld von 2.000,00 Euro zugesprochen, basierend auf einer leichten HWS-Verletzung. Die zentrale Frage für das Oberlandesgericht war nun, ob juristisch eine Brücke zwischen dem simplen Auffahrunfall und der komplexen Bluterkrankung geschlagen werden kann.
Wann haftet der Unfallgegner für Folgeschäden?
Um diesen Fall zu verstehen, muss man tief in das deutsche Schadensersatzrecht eintauchen, speziell in die Lehre vom Kausalzusammenhang. Im Zivilrecht reicht es nicht aus, dass ein Schaden nach einem Unfall auftritt; er muss durch den Unfall entstanden sein. Hierbei unterscheiden Juristen strikt zwischen zwei Ebenen, die unterschiedliche Beweisanforderungen haben. Zunächst gibt es die sogenannte Haftungsbegründende Kausalität. Das bedeutet, der Kläger muss beweisen, dass der Unfall eine erste Körperverletzung (die Primärverletzung) direkt verursacht hat. Hierfür gilt der strenge Maßstab des § 286 ZPO. Das Gericht muss sich absolut sicher sein, Zweifel dürfen praktisch nicht mehr bestehen.
Erst wenn diese erste Hürde genommen ist, kommt die zweite Stufe: die Haftungsausfüllende Kausalität. Hier geht es um die Folgeschäden, die aus der Primärverletzung resultieren. Der Gesetzgeber kommt dem Geschädigten hier entgegen. Gemäß § 287 ZPO reicht für diese Folgeschäden eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ aus. Man muss also nicht mehr jeden Zweifel ausräumen, sondern es muss nur „eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich“ sein, dass der Folgeschaden auf der Erstverletzung beruht. In diesem Spannungsfeld zwischen strengem Vollbeweis für den ersten Treffer und der Beweiserleichterung für die Folgewirkung spielte sich das gesamte Verfahren ab.
Warum scheiterte der Nachweis der Kausalität?
Das Oberlandesgericht Celle bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und wies die Berufung der Autofahrerin zurück. Die Richter folgten der Argumentation des Landgerichts Hannover und sahen keinen hinreichenden Beweis dafür, dass die schwere Autoimmunerkrankung dem Unfallgegner angelastet werden kann. Um die Entscheidung nachzuvollziehen, muss man die Argumente im Detail betrachten.
Reicht eine zeitliche Nähe als Beweis aus?
Ein Hauptargument der Klägerin war das zeitliche Zusammentreffen: Kurz nach dem Unfall trat die TTP auf. Für den medizinischen Laien wirkt dies oft wie ein klarer Beweis („Post hoc ergo propter hoc“ – danach, also deswegen). Das Gericht stützte sich jedoch auf interdisziplinäre Sachverständigengutachten, unter anderem von Dr. K. und Prof. M. Diese Experten stellten klar, dass eine bloße zeitliche Korrelation keine Kausalität begründet. Es gibt medizinisch keinen plausiblen Mechanismus, der erklärt, wie ein mechanisches Trauma wie ein Auffahrunfall den spezifischen Krankheitsprozess einer TTP in Gang setzen könnte. Selbst bei schweren Verletzungen ist ein solcher Zusammenhang wissenschaftlich nicht belegt. Da der Wirkmechanismus fehlte, half auch die zeitliche Nähe nicht weiter.
Gilt bei Folgeschäden immer die Beweiserleichterung?
Hier liegt der juristische Knackpunkt des Falls. Die Klägerin versuchte, für die TTP die Beweiserleichterung des § 287 ZPO in Anspruch zu nehmen, indem sie die Krankheit als „Sekundärschaden“ der HWS-Distorsion darstellte. Das Gericht ließ diesen Schachzug nicht zu. Die Logik des Senats: Um § 287 ZPO (die leichtere Beweislast) nutzen zu können, muss feststehen, dass die TTP eine Folge der unstreitigen Primärverletzung (HWS-Distorsion) ist. Die Gutachter konnten aber genau diesen Zusammenhang nicht bestätigen. Es war nicht einmal „überwiegend wahrscheinlich“, dass das Schleudertrauma die Autoimmunerkrankung ausgelöst hat. Da die TTP somit als eigenständiges Leiden und nicht als Folgeschaden qualifiziert wurde, fiel die Klägerin zurück auf den strengen Beweismaßstab des § 286 ZPO. Sie hätte also beweisen müssen, dass der Unfall die TTP direkt verursacht hat – was medizinisch ausgeschlossen wurde.
Wie lange dauert ein leichtes Schleudertrauma?
Neben der Autoimmunerkrankung stritten die Parteien auch über die Dauer der Nackenschmerzen. Die Klägerin behauptete, über ein Jahr lang unter den Folgen der HWS-Distorsion gelitten zu haben. Der gerichtliche Sachverständige Dr. D. widersprach dem vehement. Er erläuterte, dass eine leichte HWS-Distorsion (Grad I) typischerweise innerhalb von vier bis sechs Wochen folgenlos ausheilt. Eine Beschwerdedauer von über einem Jahr sei extrem unwahrscheinlich und im konkreten Fall nicht auf den Unfall zurückzuführen. Das Gericht folgte dieser Einschätzung und begrenzte den unfallbedingten Leidenszeitraum auf lediglich eine Woche. Damit entfielen auch die Ansprüche auf Ersatz für langfristige Behandlungen oder Verdienstausfälle, die auf eine angebliche Chronifizierung gestützt waren.
Wie hoch ist das Schmerzensgeld bei leichtem HWS-Syndrom?
Das Urteil schafft Klarheit für die Bewertung von leichten Verletzungen nach Verkehrsunfällen. Da die schwere Autoimmunerkrankung nicht dem Unfall zugerechnet werden konnte, blieb nur die leichte HWS-Distorsion mit einer kurzen Leidenszeit von einer Woche als ersatzfähiger Schaden übrig. Das Oberlandesgericht bestätigte das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 Euro als angemessen.
Diese Summe orientiert sich an der gängigen Rechtsprechung, etwa vergleichbaren Entscheidungen des OLG Brandenburg oder LG Tübingen, die für ähnliche Verletzungen Beträge zwischen 1.500 und 2.000 Euro zusprechen. Das Gericht betonte dabei die Doppelfunktion des Schmerzensgeldes nach § 253 BGB: Es soll dem Verletzten einen Ausgleich für erlittene Schmerzen bieten und zugleich Genugtuung für das fremdverursachte Leid verschaffen. Bei einer Ausheilung innerhalb weniger Wochen ohne dauerhafte Folgen ist dieser Betrag laut Senat absolut ausreichend. Die Klägerin muss zudem die Kosten des Berufungsverfahrens tragen, und eine Revision wurde nicht zugelassen. Damit ist rechtskräftig festgestellt: Ein seltener Schicksalsschlag nach einem Unfall muss nicht zwingend die finanzielle Verantwortung des Unfallgegners sein, wenn die Wissenschaft keine Brücke bauen kann.
Die Urteilslogik
Gerichte beurteilen die Zurechenbarkeit komplexer Folgeschäden nicht nur nach dem zeitlichen Auftreten, sondern nach strengen, wissenschaftlich fundierten Kausalitätsstandards.
- Differenzierung der Beweislast: Wer Schadensersatz fordert, muss die unmittelbare Verursachung der Primärverletzung lückenlos beweisen; für nachfolgende Sekundärschäden lockert sich die Beweisanforderung zugunsten der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.
- Keine Kausalität ohne Mechanismus: Eine bloße zeitliche Nähe zwischen einem Ereignis und dem Auftreten einer schweren, komplexen Erkrankung begründet keine Haftung, wenn medizinische Sachverständige keinen plausiblen wissenschaftlichen Wirkmechanismus für den Zusammenhang feststellen können.
- Grenzen der Beweiserleichterung: Geschädigte nutzen die Beweiserleichterung für Folgeschäden nur dann erfolgreich, wenn sie beweisen können, dass der geltend gemachte Sekundärschaden tatsächlich eine Konsequenz der durch den Unfall verursachten Erstverletzung darstellt.
- Standard bei leichter HWS-Distorsion: Eine leichte HWS-Distorsion (Grad I) gilt als typische Verletzung, die folgenlos und in kurzer Zeit ausheilt; Anspruch auf Schmerzensgeld beschränkt sich daher auf eine Höhe, die dieser kurzen Leidenszeit ohne Chronifizierung angemessen ist.
Die juristische Brücke zwischen Unfallgeschehen und dem geltend gemachten Schaden setzt zwingend eine lückenlose kausale Kette voraus, die durch fundierte und interdisziplinäre Sachverständigengutachten gestützt werden muss.
Benötigen Sie Hilfe?
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Experten Kommentar
Ein schwerer Schicksalsschlag kurz nach einem Bagatellunfall – das ist menschlich tragisch und lässt Laien schnell an einen direkten Zusammenhang glauben. Dieses Urteil ist strategisch wichtig, weil es eine klare rote Linie zieht: Man kann die Beweiserleichterung für Folgeschäden nicht nutzen, wenn die Wissenschaft keinen plausiblen Mechanismus sieht, der die Primärverletzung überhaupt mit der schweren Krankheit verbindet. Konkret bedeutet das: Fehlt der medizinisch haltbare Link zwischen dem leichten Schleudertrauma und der seltenen Autoimmunerkrankung, muss der Geschädigte den vollen Beweis liefern, dass der Unfall die Krankheit direkt ausgelöst hat. Wer einen hohen Schadensersatz für komplexe Langzeitschäden beansprucht, muss also mehr liefern als nur die zeitliche Nähe; die Kette der Kausalität muss wissenschaftlich geschlossen sein.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann muss der Unfallverursacher für meine späteren, schweren Krankheiten aufkommen?
Der Unfallverursacher haftet für schwere Spätfolgen wie komplexe Autoimmunerkrankungen nur dann, wenn Sie einen wissenschaftlich plausiblen Wirkmechanismus belegen können. Bloße zeitliche Nähe zwischen dem Unfall und dem Auftreten der schweren Symptome genügt juristisch nicht. Gerichte fordern den sogenannten Vollbeweis nach § 286 ZPO, um die Kausalitätskette zwischen der Primärverletzung und der schweren Spätkrankheit zweifelsfrei zu schließen.
Für komplexe und seltene Leiden gilt der strenge Beweismaßstab des Vollbeweises, da diese Erkrankungen oft als eigenständige Schicksalsschläge und nicht als direkte Folgeschäden der ursprünglichen Verletzung betrachtet werden. Der Nachweis scheitert häufig, wenn Gutachter keinen kausalen Mechanismus identifizieren können, der erklärt, wie ein mechanisches Trauma (beispielsweise eine HWS-Distorsion) den spezifischen Krankheitsprozess in Gang setzt. Die hohen Kosten für langfristige Behandlungen oder Verdienstausfall (bis zu 550.000 Euro Streitwert) fallen dann weg.
Nehmen wir den Fall einer lebensbedrohlichen Bluterkrankung (TTP) nach einem Auffahrunfall. Obwohl die Symptome kurz nach dem Ereignis einsetzten, wiesen Sachverständige vor Gericht nach, dass kein medizinisch plausibler Mechanismus existiert, um die Kausalkette zu erklären. Der Senat stellte fest, dass ein seltener Schicksalsschlag, bei dem die Wissenschaft keine Brücke bauen kann, nicht die finanzielle Verantwortung des Unfallverursachers sein muss. Ohne diesen wissenschaftlich fundierten Zusammenhang bricht die Haftung zusammen.
Fordern Sie Ihren behandelnden Facharzt schriftlich auf, den hypothetischen biologischen oder physikalischen Wirkmechanismus detailliert zu beschreiben, der Ihre Verletzung mit der schweren Folgeschädigung verbindet.
Wie lange nach dem Unfall kann ich Schmerzensgeld für HWS-Schmerzen geltend machen?
Gerichte erkennen Schmerzensgeld für leichte HWS-Distorsionen (Grad I) in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum an. Medizinische Sachverständige legen fest, dass diese Verletzungsart typischerweise innerhalb von vier bis sechs Wochen folgenlos ausheilt. Eine andauernde Beschwerdedauer von über einem Jahr lehnen Richter ohne zusätzliche, objektive Befunde häufig als nicht unfallbedingt ab.
Die Unfallgegner bzw. deren Versicherungen argumentieren standardmäßig mit wissenschaftlichen Studien zur Heilungsdauer von Schleudertraumata. Bleiben die Schmerzen länger als sechs Wochen bestehen, verlangen Gerichte einen lückenlosen Beweis für die Kausalität. Nur wenn die Schmerzen direkt auf den Unfall zurückzuführen sind, besteht der Anspruch auf Schmerzensgeld. Fehlen objektive Indikatoren wie Bewegungseinschränkungen in Grad/Winkel oder neurologische Ausfälle, wird die Chronifizierung der Schmerzen juristisch oft nicht anerkannt.
Konkret zeigte sich dies in einem Fall vor dem OLG Celle: Die Klägerin behauptete Schmerzen über ein Jahr lang. Trotzdem begrenzte das Gericht die unfallbedingt anerkannte Leidenszeit auf lediglich eine Woche, weil objektive Beweismittel für die behauptete Chronifizierung fehlten. Diese strenge Haltung bedeutet, dass längerfristige Ansprüche, beispielsweise auf Verdienstausfall oder umfangreiche Behandlungskosten, entfallen. Die gesamte Beschwerdedauer muss wissenschaftlich belegbar auf das ursprüngliche Trauma zurückgeführt werden können.
Stellen Sie sofort alle Arztberichte der ersten sechs Wochen zusammen und markieren Sie alle Passagen, die objektivierbare Einschränkungen dokumentieren.
Wann gilt die Beweiserleichterung (§ 287 ZPO) für Spätschäden nach einem Auffahrunfall?
Die Beweiserleichterung nach § 287 ZPO greift ausschließlich für die sogenannte haftungsausfüllende Kausalität. Das bedeutet: Geschädigte können diese Regelung erst anwenden, wenn sie den strengen Beweis bereits erbracht haben, dass der Unfall eine Primärverletzung verursacht hat. Der Paragraph erleichtert lediglich den Nachweis von Spätschäden, die direkt aus dieser unstreitigen Erstverletzung resultieren. Sie müssen also nur die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs beweisen.
Das deutsche Zivilrecht unterscheidet strikt zwischen zwei Beweisstufen, die unterschiedliche Anforderungen stellen. Zuerst müssen Sie die haftungsbegründende Kausalität mit dem strengen Vollbeweis nach § 286 ZPO führen. Hierbei muss das Gericht alle praktischen Zweifel ausschließen. Ist die Primärverletzung – wie etwa ein Schleudertrauma – als unfallbedingt anerkannt, wechselt das Verfahren in die zweite Stufe. Für die daraus resultierenden Folgeschäden genügt dann die niedrigere Hürde des § 287 ZPO.
Wird der Spätschaden juristisch als völlig eigenständiges Leiden qualifiziert, können Sie die Beweiserleichterung nicht nutzen. So versuchte eine Klägerin vor dem OLG Celle, eine schwere Autoimmunerkrankung als einfachen Sekundärschaden einer HWS-Distorsion darzustellen. Das Gericht wies diesen Ansatz ab. Da Gutachter keinen wissenschaftlichen Mechanismus zwischen dem mechanischen Trauma und der Krankheit fanden, fiel die Klägerin auf den strengen Vollbeweis des § 286 ZPO zurück.
Analysieren Sie gemeinsam mit Ihrem Anwalt, ob Ihr Spätschaden als nachvollziehbare Folge Ihrer Primärverletzung oder als eigenständiges Trauma argumentiert werden muss.
Reicht die zeitliche Nähe als Beweis aus, wenn der Arzt keinen Mechanismus findet?
Nein, Gerichte lehnen die Annahme ab, dass eine Krankheit nur wegen ihrer zeitlichen Nähe zum Unfall kausal verbunden ist. Eine bloße zeitliche Korrelation reicht nicht aus. Juristisch fordern Richter zwingend den Nachweis eines plausiblen Wirkmechanismus. Ohne wissenschaftlich belegbare Brücke zwischen Trauma und Folgeerkrankung scheitert die Klage, da die zeitliche Abfolge allein keine juristische Kausalität begründet.
Richter folgen nicht der Laienlogik, die oft schlussfolgert: „danach, also deswegen“ (post hoc ergo propter hoc). Stattdessen stützen sich die Gerichte auf interdisziplinäre Sachverständigengutachten. Diese Gutachten müssen schlüssig erklären, wie das mechanische Trauma (der Unfall) den spezifischen Krankheitsprozess auf biologischer Ebene auslösen konnte. Der zwingende Nachweis eines solchen Mechanismus liegt immer beim Geschädigten.
Nehmen wir an, eine seltene Autoimmunerkrankung wie die TTP bricht kurz nach einem Auffahrunfall aus. Fehlt der wissenschaftliche Nachweis, wie das Schleudertrauma diesen komplexen Krankheitsprozess in Gang setzt, wird die Kausalitätskette unterbrochen. Die zeitliche Nähe verliert dann ihre Beweiskraft völlig. Das Leiden wird juristisch als eigenständiger, schicksalhafter Prozess gewertet, der dem Unfallgegner nicht angelastet werden kann.
Suchen Sie sofort interdisziplinäre Experten (Immunologen, Neurologen), die wissenschaftliche Studien zum Beleg des spezifischen kausalen Mechanismus vorlegen können.
Wie hoch fällt mein Schmerzensgeld aus, wenn nur die HWS-Verletzung anerkannt wird?
Wenn schwerwiegende Spätfolgen wie chronische Schmerzen oder komplexe Erkrankungen abgewiesen werden, beschränkt sich der Anspruch auf die anerkannte Primärverletzung. Bei einer leichten HWS-Distorsion (Grad I) mit kurzer Leidenszeit bewegen sich die zugesprochenen Beträge im unteren bis mittleren vierstelligen Bereich. Laut gängiger Rechtsprechung erhalten Sie für solche Fälle üblicherweise zwischen 1.500 und 2.000 Euro Schmerzensgeld.
Die Höhe des Schmerzensgeldes bemisst sich hauptsächlich nach der Dauer der Leidenszeit und der Schwere der Einschränkungen. Medizinische Sachverständige definieren leichte Schleudertraumen (Grad I) als Verletzungen, die typischerweise innerhalb von vier bis sechs Wochen vollständig ausheilen müssen. Gerichte folgen dieser medizinischen Einschätzung konsequent. Fehlen objektive Befunde für eine längere Beeinträchtigung, wird die Schmerzensgeldbemessung auf diesen kurzen Zeitraum begrenzt. Das Schmerzensgeld erfüllt die Doppelfunktion nach § 253 BGB, indem es Schmerzausgleich und Genugtuung bietet.
Ein konkretes Beispiel verdeutlicht diese Begrenzung der finanziellen Erwartungen. Das Oberlandesgericht Celle bestätigte in einem Fall das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 Euro. Dies galt, obwohl der Geschädigte eine deutlich längere Leidenszeit behauptete. Weil die objektive, unfallbedingte Leidenszeit gerichtlich auf lediglich eine Woche begrenzt wurde, hielt der Senat den Betrag für angemessen. Ansprüche auf deutlich höhere Summen scheitern, wenn keine dauerhaften neurologischen Schäden oder höhergradigen HWS-Verletzungen (Grad II oder III) vorliegen.
Konsultieren Sie eine aktuelle Schmerzensgeldtabelle, um die Erwartungen an die Auszahlungssumme realistisch an Urteile zu Grad I HWS-Distorsionen anzupassen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Beweiserleichterung (§ 287 ZPO)
Die Beweiserleichterung nach § 287 ZPO ist eine zivilrechtliche Regelung, die dem Geschädigten erlaubt, für die Geltendmachung der Höhe und des Umfangs seiner Folgeschäden lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs nachzuweisen. Das Gesetz erkennt an, dass die genaue Berechnung von Folgeschäden wie Schmerzensgeld oder Verdienstausfall oft nur schwer lückenlos beweisbar ist, weshalb hier ein geringerer Beweismaßstab angewendet wird, sobald die Primärverletzung feststeht.
Beispiel: Die Klägerin versuchte, die seltene Autoimmunerkrankung mithilfe der Beweiserleichterung nach § 287 ZPO als Sekundärschaden der HWS-Distorsion geltend zu machen, was das Gericht jedoch ablehnte, da der direkte Zusammenhang zur Primärverletzung fehlte.
Haftungsbegründende Kausalität
Juristen nennen die haftungsbegründende Kausalität die erste und strengste Stufe des Beweises, bei der der Geschädigte nachweisen muss, dass das schädigende Ereignis (der Unfall) die ursprüngliche Verletzung (Primärverletzung) direkt verursacht hat. Das Gesetz verlangt hier den strengen Vollbeweis, um sicherzustellen, dass überhaupt ein zurechenbarer Fehler des Gegners vorliegt, bevor über die Höhe der Schäden entschieden wird.
Beispiel: Die Autofahrerin musste mit dem strengen Vollbeweis nachweisen, dass der Auffahrunfall tatsächlich eine leichte HWS-Distorsion ausgelöst hatte, womit die haftungsbegründende Kausalität erfolgreich geschlossen wurde.
Haftungsausfüllende Kausalität
Diese Kausalität beschreibt den Nachweis des Zusammenhangs zwischen der Erstverletzung und den daraus resultierenden späteren Schäden oder Folgeleiden, wofür typischerweise die Beweiserleichterung nach § 287 ZPO gilt. Sobald feststeht, dass der Unfall die erste Verletzung verursacht hat, regelt die haftungsausfüllende Kausalität, welche Folgeschäden dem Unfallgegner finanziell zugerechnet werden müssen.
Beispiel: Im vorliegenden Fall scheiterte die Klägerin daran, die schwere Autoimmunerkrankung als Teil der haftungsausfüllenden Kausalität darzustellen, da der wissenschaftlich plausible Wirkmechanismus zur HWS-Distorsion nicht belegt werden konnte.
Post hoc ergo propter hoc
Dieser lateinische Rechtssatz, übersetzt mit „danach, also deswegen“, beschreibt den logischen Fehlschluss, eine bloße zeitliche Abfolge automatisch mit einem kausalen Zusammenhang gleichzusetzen. Gerichte warnen vor dieser Laienlogik, da im Zivilrecht immer ein wissenschaftlich plausibler Wirkmechanismus für die juristische Zurechenbarkeit erforderlich ist.
Beispiel: Obwohl die TTP kurz nach dem Auffahrunfall auftrat, wies das Gericht die Argumentation zurück, weil die zeitliche Korrelation allein nicht genügte, um das Prinzip des post hoc ergo propter hoc in eine juristische Kausalität umzuwandeln.
Vollbeweis (§ 286 ZPO)
Der Vollbeweis nach § 286 ZPO ist der höchste Beweismaßstab im deutschen Zivilrecht, bei dem der Richter von der vollständigen Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung überzeugt sein muss, sodass alle praktischen Zweifel ausgeschlossen werden. Dieser strenge Maßstab dient der Rechtssicherheit und wird für die Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität gefordert, um die Frage der Schuld und der Primärverletzung zweifelsfrei zu klären.
Beispiel: Die Klägerin hätte für die schwere Autoimmunerkrankung den Vollbeweis nach § 286 ZPO erbringen müssen, nämlich dass der Unfall die TTP direkt verursacht hat, was die medizinischen Sachverständigen ausschlossen.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Celle – Az.: 14 U 163/24 – Beschluss vom 28.03.2025
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