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Sorgfaltspflichten beim Anfahren in den fließenden Verkehr aus „zweiter Reihe“

AG Düsseldorf – Az.: 27 C 11809/10 – Urteil vom 03.02.2012

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Der Kläger verlangt Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 31.10.2009 auf der B Straße in E in Höhe Hausnummer 00 ereignet hat.

Der Kläger hatte den Pkw Citroen Xantia, amtliches Kennzeichen xxxxx, am rechten Fahrbahnrand der B Straße vor der Kreuzung B Straße / L-straße in zweiter Reihe geparkt. Neben der Fahrspur in Fahrtrichtung der Kreuzung (stadteinwärts) befinden sich parallel zur Fahrbahn verlaufende Parkbuchten. Der Beklagte zu 1) fuhr mit dem auf ihn zugelassenen Pkw Citroen C3, amtliches Kennzeichen xxxxx, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war, auf der B Straße stadteinwärts. An der Kreuzung B Straße / L-straße wollte der Beklagte zu 1) nach rechts auf die L-straße abbiegen. Der Kläger fuhr mit dem Citroen Xantia wieder an und wollte sich in den Verkehr einordnen. Der Beklagte zu 1) wollte an ihm vorbeifahren. Die Pkws kollidierten und wurden beschädigt.

An dem Citroen Xantia entstand ein wirtschaftlicher Totalschaden. Der Wiederbeschaffungswert beträgt 1.000,00 €. Für die Feststellung des Schadens beauftragte der Kläger einen Sachverständigen, wodurch Kosten in Höhe von 432,56 € entstanden. Diese Beträge verlangt er nun von den Beklagten nebst einer Kostenpauschale von 26,00 € und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ersetzt, nachdem er die Beklagte zu 2) mit Anwaltsschreiben vom 16.12.2009 erfolglos zur Zahlung aufgefordert hatte.

Der Kläger behauptet, er sei Eigentümer des Citroen Xantia. Als er in zweiter Reihe gestanden habe, hätten vor ihm zwei weitere Fahrzeuge in zweiter Reihe geparkt. Bevor er losgefahren sei, habe er den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt und sei nach entsprechender Rückschau nach links ausgeschert, um sich in den Verkehr einzuordnen. Da die Ampel an der Kreuzung Rot gezeigt habe, und sich vor ihm vor der Ampel Fahrzeuge befunden hätten, habe er nicht weiter vorfahren können. Als die Ampel auf Grün umgesprungen sei, habe er den Beklagten zu 1) gesehen und ihn vorbei fahren lassen wollen. Dieser habe sich aber offensichtlich beim Einordnen vor ihn verschätzt und sei gegen sein stehendes Fahrzeug gefahren.

Der Kläger beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 1.458,56 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.12.2009 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 186,24 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Sie behaupten, der Citroen Xantia habe – aus Fahrtrichtung des Beklagten zu 1) gesehen – als letztes von drei Autos in zweiter Reihe ca. 7 Meter vor der Kreuzung gestanden. Vor dem Xantia habe sich kein Fahrzeug befunden. Als der Beklagte zu 1) sich vor den Pkw des Klägers habe einordnen wollen, sei der Kläger geradeaus losgefahren und gegen den Citroen C3 gefahren.

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 10.04.2011 (Bl. 47, 48 GA). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 30.06.2011 (Bl. 64 – 69 GA) und das schriftliche Sachverständigengutachten vom 19.10.2011 (Bl. 76 – 98 GA) Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger kann von den Beklagten keinen Schadensersatz aufgrund des Verkehrsunfalls vom 31.10.2009 verlangen.

Es ist zwar davon auszugehen, dass der Kläger Eigentümer des Citroen Xantia war. Dafür spricht die Vermutung des § 1006 BGB, da er den Pkw in Besitz hatte. Die Beklagten sind auch dem Grunde nach gemäß §§ 7 Abs.1, 18 Abs.1 StVG i.V.m. § 115 Abs.1 Nr.1 VVG schadensersatzpflichtig. Da allerdings der Kläger selbst gemäß §§ 7 Abs.1, 18 Abs.1 StVG haftet, bestimmt sich die Haftung nach den beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteilen, §§ 17, 18 StVG. Diese Abwägung, bei der nur unstreitige oder bewiesene Tatsachen berücksichtigt werden dürfen, führt hier zu einer alleinigen Haftung des Klägers.

Es ist von einem schuldhaften Verstoß des Klägers gegen § 10 StVO auszugehen. Der Unfall hat sich unstreitig ereignet, nachdem der Kläger wieder angefahren war, nachdem er zuvor geparkt hatte. Seine ursprüngliche Behauptung, in einer der Parkbuchten geparkt zu haben, hat er in der mündlichen Verhandlung am 30.06.2011 nicht mehr aufrechterhalten. Er hat unstreitig gestellt, in zweiter Reihe auf der B Straße geparkt zu haben. Wenn er von einer Parkbucht aus auf die Straße gefahren wäre, wie er zunächst behauptet hat, wäre § 10 StVO direkt anwendbar. Die gesteigerten Sorgfaltspflichten des § 10 StVO gelten aber auch bei einem Anfahren aus „zweiter Reihe“.

§ 10 StVO legt demjenigen, der nach einem nicht verkehrsbedingten Halten oder Parken aus dem Stand vom Fahrbahnrand wieder anfährt, eine gesteigerte Sorgfaltspflicht gegenüber dem fließenden Verkehr auf. Er muss den fließenden Verkehr sorgfältig beobachten und darf sich erst dann in ihn einordnen, wenn er keinen Verkehrsteilnehmer, insbesondere kein von hinten herankommendes Fahrzeug, gefährdet oder mehr als den Umständen nach unvermeidbar behindert oder belästigt. Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn ohne Verlegung der Fahrlinie nach links angefahren wird. Ein Anfahrender muss daher ohne weiteres damit rechnen, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer vor ihm nach rechts einscheren und ggf. sogar anhalten will. Kommt es im Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand – wie hier – über die Gefährdung eines anderen Verkehrsteilnehmers hinaus zu einem Verkehrsunfall, so spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der in den fließenden Verkehr hineinfahrende Kraftfahrer die ihm dabei obliegenden gesteigerten Sorgfaltspflichten nicht beachtet hat, sich also nicht so verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Er haftet regelmäßig allein für die Folgen, denn das Risiko für sein gefährliches Verhalten trägt dieser Verkehrsteilnehmer grundsätzlich selbst (LG Berlin NZV 2004, 635 m.w.N.).

Diesen Anscheinsbeweis konnte der Kläger nicht erschüttern. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass er die gesteigerten Sorgfaltspflichten des § 10 StVO beachtet hätte. Die Angaben der Zeugin H waren insoweit schon unergiebig. Sie schilderte einen Unfallhergang, der mit den Angaben der Parteien überhaupt nicht in Einklang zu bringen war. Nach ihrer Aussage, die auch offensichtlich davon geprägt war, ihren Ex-Ehemann zu entlasten, scheint das klägerische Fahrzeug bis zur Kollision überhaupt nicht bewegt worden zu sein. Dem hat auch der Kläger selbst im Rahmen seiner Anhörung widersprochen. Er gab selbst an, links ausgeschert zu sein. Der Aussage der Zeugin lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass und wie der Kläger bei dem Anfahren nach dem Parkvorgang etwa auf den rückwärtigen Verkehr geachtet haben will.

Der Kläger konnte auch nicht beweisen, dass er im Zeitpunkt der Kollision gestanden hätte. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen I muss sich das Fahrzeug des Klägers vielmehr in Vorwärtsbewegung befunden haben. Andernfalls ließen sich die Schäden an dem Pkw des Beklagten zu 1) nicht erklären. Wenn der Citroen C3 gegen den stehenden Citroen Xantia geprallt wäre, hätten zwingend auch an der seitlichen Flanke des Frontstoßfängers Kontaktspuren und/oder Beschädigungen entstehen müssen. Auch wären umlaufende Kontaktspuren auf der Radzierblende des rechten Vorderrades zu erwarten gewesen, die nicht vorlagen. Ebenso hätten an den Seitentüren zumindest streifende Kontaktspuren oder auch Deformationen der Türblätter vorhanden sein müssen, wenn der Beklagte zu 1) nach rechts fahrend zuerst mit den hinteren Teil des Radlaufbogens – der beschädigt war – gegen den stehenden Citroen Xantia gefahren wäre. Diese Spuren gab es nicht. Aufgrund der Positionierung des Schadens an dem Citroen C3 müsse der Citroen Xantia anfahrend gegen das vorbeifahrende Fahrzeug des Beklagten zu 1) gefahren sein und nach dem Anprall bis zum Stillstand wieder verzögert worden sein. Diesen überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen schließt sich das Gericht umfänglich an.

Damit sind auch die Angaben der Zeugin, dass das Fahrzeug bis zur Kollision gestanden hätte, widerlegt. Die Aussage der Zeugin war ohnehin unglaubhaft und die Zeugin unglaubwürdig. Ihr gesamte Aussage beschränkte sich darauf, die wenigen, angeblich für den Kläger günstigen Details zu bestätigen, nämlich dass er gestanden habe, bis zur Kollision das Fahrzeug sich nicht bewegt habe und dann der Beklagte sie gerammt habe. Letzteres war auch eine bloße unbeachtliche Schlussfolgerung von ihr. Wie sie selbst einräumte, hatte sie den Unfallhergang überhaupt nicht gesehen, sondern ist erst durch die Kollision auf das andere Fahrzeug aufmerksam geworden. Fragen, die über diese Kernpunkte hinausgehen, konnte oder wollte die Zeugin nicht beantworten und hat sich auf Erinnerungslücken berufen. Es ist aber schlechterdings nicht vorstellbar, dass sie sich etwa angeblich noch daran erinnern können will, dass das Fahrzeug des Klägers „schräg“ stand und er sich nach links in den Verkehr einfädeln wollte, sich aber nicht mehr daran erinnern konnte, ob sich vor ihnen ein Fahrzeug befunden hatte, was möglicherweise ein, wenn nicht der einzige plausible Grund für diese „schräge“ Stellung wäre, wo sie doch auf der Straße – und nicht in einer Parkbucht – standen. Den historischen Vorgang bis zur angeblich „schrägen Stellung“ hat die Zeugin komplett ausgeklammert. Es ist vollkommen unglaubwürdig, dass sie sich allein an die schräge Stellung, nicht aber daran, ob vor ihnen Fahrzeuge waren, erinnern kann. Dies ist ein einheitlicher Vorgang und die „Erinnerungslücke“ der Zeugin umso bemerkenswerter, weil sie andererseits sich an das Detail erinnern will, wie der Kläger den linken Blinker gesetzt hat und die linken Blinkerzeichen geleuchtet haben. Das Gericht kann nach alldem, auch unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens nicht positiv feststellen, dass die Angaben der Zeugin wahr wären.

Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) tritt hinter dem Verstoß des Klägers gegen § 10 StVO vollständig zurück (vgl. LG Berlin a.a.O.).

II.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs.1, 708 Nr.11, 711 ZPO.

III.

Streitwert: 1.458,56 €.

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