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Notbremsung wegen Reifenplatzer eines vorausfahrenden Fahrzeugs

LG Kassel, Az.: 4 O 628/15, Urteil vom 12.04.2016

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Am 05.08.2013 ereignete sich auf der Bundesautobahn 7, in Höhe Kilometer 337,900 in der Gemarkung 34323 Malsfeld ein Verkehrsunfall, an dem Herr P. G.. P. als Fahrer eines bei der Klägerin kraftfahrthaftpflichtversicherten Wohnmobils mit dem amtlichen Kennzeichen … beteiligt war.

Die Klägerin nimmt den Beklagten, der seinerseits Kraftfahrthaftpflichtversicherungsschutz gewährt, unter dem Gesichtspunkt der Mithaftung auf anteiligen Regress in Anspruch.

Im Einzelnen:

Am 05.08.2013 gegen 17:45 Uhr befuhr Herr F. B. mit einem zum Unfallzeitpunkt bei dem Beklagten kraftfahrthaftpflichtversicherten Sattelzug bestehend aus der Sattelzugmaschine mit dem amtlichen Kennzeichen … sowie dem mitgeführten Sattelauflieger mit dem amtlichen Kennzeichen … Bundesautobahn 7 im Bereich der Unfallstelle in Richtung Süden. Es war trocken und taghell, es herrschte hohes Verkehrsaufkommen.

Am von Herrn B. mitgeführten Sattelauflieger ereignete sich auf der linken Seite ein „Reifenplatzer“. Während Herr B. den Sattelzug auf den Seitenstreifen lenken und dort zum Stehen bringen konnte, blieb ein größeres Reifentrümmerteil in dem mittleren Hauptfahrstreifen der Autobahn liegen.

Auf dem mittleren Hauptfahrstreifen wurde das Reifentrümmerteil von dem von Herrn D. W. geführten Pkw Citroen mit dem amtlichen Kennzeichen … erreicht. Herr W. erkannte das Reifentrümmerteil, bremste seinen Pkw bis zum Stillstand ab und konnte so eine Kollision mit dem Reifenteil verhindern.

Ein dem Pkw des Herrn W. folgender von Frau N. V. geführter Pkw wich hinter dem vollständig bis zum Stillstand abgebremsten Pkw des Herrn W. auf die linke Fahrspur aus und entging einer weiteren Unfallbeteiligung.

Nunmehr folgte auf dem mittleren Fahrstreifen ein weiterer, von Frau K. R. geführter Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen … . Frau R. konnte ihren Pkw noch hinter demjenigen des Herrn W. abbremsen und ohne Kollision mit diesem zum Stehen bringen.

Der nunmehr folgende Fahrer des bei der Klägerin versicherten Wohnmobils, Herr P. G. P., konnte sein Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig hinter dem vorbefindlichen Pkw der Frau R. zum Stillstand bringen und fuhr auf diesen Pkw auf, das dadurch auf den Pkw des Herrn W. aufgeschoben wurde.

Durch die Kollision geriet das bei der Klägerin kraftfahrthaftpflichtversicherte Wohnmobil zudem in den rechten Fahrstreifen, der von Motorradfahrern befahren wurde.

Die Klägerin hat für die Regulierung der Unfallschäden der Eigentümer und Insassen der Pkw mit den amtlichen Kennzeichen … und … (Fahrer W. bzw. R.) bislang 16.604,19 € aufgewandt.

Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 10.03.2014 jegliche Zahlung gegenüber der Klägerin abgelehnt hatte, ist Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits das Begehren der Klägerin, 40 % ihrer vorgenannten Aufwendungen (6.641,68 €) von der Beklagten erstattet zu erhalten.

Die Klägerin behauptet, aufgrund des „Reifenplatzers“ an dem bei dem Beklagten versicherten Fahrzeug seien die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer zu einer Vollbremsung bis zum Stillstand gezwungen worden. Ursache des „Reifenplatzers“ sei mangelnde Sorgfalt bei der Beobachtung des hinreichend sicheren Fahrzeugzustandes, insbesondere des ordnungsgemäßen Zustandes der Bereifung, oder eine Überladung bzw. eine sonstige unsachgemäße Verwendung des Fahrzeuges. Den Beklagten belaste daher eine erhöhte Betriebsgefahr.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an sie 6.641,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.03.2014 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Er behauptet, die Reifen des Sattelaufliegers seien weniger als 1 Jahr alt gewesen möglicherweise habe ein Materialfehler vorgelegen. Es sei zudem so gewesen, dass, wie die Beifahrerin des Herrn W. zu der beigezogen gewesenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Kassel 9011 Js 32145/13 berichtet hat, vor Herrn W. noch weiterer Pkw den mittleren Hauptfahrstreifen befahren und dem Reifenteil durch Fahrspurwechsel ausgewichen sei. Der Fahrer des bei der Klägerin versicherten Wohnmobils, Herr P., sei mit nicht situationsangepasster Geschwindigkeit, unachtsam, ohne hinreichenden Sicherheitsabstand gefahren. Er habe vor der Kollision mit dem von Frau R. geführten Pkw 1,5 – 2 Sekunden von der vor ihm befindlichen Fahrbahn weggesehen und sei ungebremst aufgefahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten und zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Notbremsung wegen Reifenplatzer eines vorausfahrenden Fahrzeugs
Symbolfoto: nattaphol/Bigstock

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten keinen Gesamtschuldnerregressanspruch wegen der Schäden, die sie als Haftpflichtversicherer des durch Herrn P. gesteuerten Wohnmobils gegenüber den Eigentümern und Insassen der Pkw mit den amtlichen Kennzeichen … und … (Fahrer W. bzw. R.) bislang deshalb reguliert hat, weil Herr P. am 05.08.2013 mit dem von ihm geführten Wohnmobil zunächst auf den von Frau R. zum Stehen gebrachten Pkw auffuhr und dieses dadurch auf den Pkw des Herrn W. aufgeschoben wurde.

Zwar haftete im Außenverhältnis auch der Beklagte gem. §§ 7 StVG, 115 VVG als Gesamtschuldner neben der Klägerin für die Schäden der durch die Regulierungshandlungen der Klägerin begünstigten Eigentümer und Insassen der Pkw mit den amtlichen Kennzeichen … und … (Fahrer W. bzw. R.).

Denn der „Reifenplatzer“ am bei dem Beklagten kraftfahrthaftpflichtversicherten Sattelzug war im naturwissenschaftlichen Sinne die Ausgangsursache für die Brems- und Ausweichmanöver des nachfolgenden Verkehrs das letztliche Anhalten des von Frau R. geführten geführten Pkw und das Auffahren des von Herrn P. geführten Wohnmobils. Zwischen dem „Reifenplatzer“ und dem Schadenseintritt bei den Eigentümern und Insassen der Pkw mit den amtlichen Kennzeichen … und … (Fahrer W. bzw. R.) bestand auch, wenn eine Kollision mit dem Reifentrümmerteil nicht stattgefunden hat, ein solch enger örtlicher und zeitlicher Zusammenhang, der adäquat kausal Schadensersatzansprüche der Eigentümer und Insassen der Pkw mit den amtlichen Kennzeichen … und … (Fahrer W. bzw. R.) auch gegenüber dem Kraftfahrfahrhaftpflichtversicherer des von Herrn B. mitgeführten Sattelaufliegers, dem Beklagten begründete.

Die diesbezügliche unmittelbare Haftung ist auch nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen.

Ein „Reifenplatzer“ stellt kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG sondern ein Versagen der Fahrzeugvorrichtungen im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG dar. Ein solches Versagen ist auch gegeben, wenn, was die Beklagte für möglich erachtet, ein verborgener Materialfehler vorlag (Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 7 StVG Rn. 22). Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeuges lassen die Haltehaftung nicht gemäß § 7 Abs. 2 StVG wegen „höherer Gewalt“ entfallen.

Im Innenverhältnis zwischen der Klägerin und dem Beklagten besteht der geltend gemachte Gesamtschuldnerregressanspruch indes nicht gegeben. Die diesbezüglich maßgeblichen Voraussetzungen sind im Verhältnis der Parteien, ohne dass es einer weiteren Sachverhaltsaufklärung bedarf, weder nach § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB noch nach § 426 Abs. 2 BGB gegeben.

Bei verkehrsunfallbezogenen Schadensersatzansprüchen richtet sich die Verteilung des Fahrzeugschadens auf mehrere Ersatzpflichtige im Rahmen des § 426 BGB in erster Linie nach dem gemäß § 17 StVG zu berücksichtigenden Maß der Verursachung, in zweiter Linie nach dem Maß des Verschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB).

Dabei sind nur unstreitige oder bewiesene Tatsachen zu berücksichtigen.

Die Abwägung kann im Einzelfall auch zu einer alleinigen Belastung eines Ersatzpflichtigen führen (Palandt-Grüneberg, § 426 BGB Rn. 14).

So liegen die Dinge hier:

Auch wenn der „Reifenplatzer“ die Ausgangsursache für die Bremsmanöver des nachfolgenden Verkehrs, das letztliche Anhalten des von Frau R. gesteuerten Pkw und das Auffahren des von Herrn P. geführten Wohnmobils war, kann nicht zugunsten der Klägerin zugrunde gelegt werden, dass der Fahrer des bei dem Beklagten versicherten Sattelzuges durch ein schuldhaftes Fehlverhalten im Zusammenhang mit dem am Sattelauflieger eingetretenen „Reifenplatzer“ die Ausgangsursache für die Kollision des von Herrn P. gesteuerten Wohnmobils mit dem von Frau R. gesteuerten Pkw gesetzt hat.

Die Argumentation der Klägerin, Ursache des „Reifenplatzers“ müsse zwangsläufig mangelnde Sorgfalt bei der Beobachtung des hinreichend sicheren Fahrzeugzustandes, insbesondere des ordnungsgemäßen Zustandes der Bereifung, oder eine Überladung bzw. eine sonstige unsachgemäße Verwendung des Fahrzeuges gewesen sein, weil „Reifenplatzer“ bei normaler Beanspruchung nicht aufträten, verfängt nicht. Einen diesbezüglichen Anscheinsbeweis gibt es nicht. Die Möglichkeit eines Materialfehlers ist nicht ausgeschlossen.

Soweit es um die Schäden geht, die dadurch entstanden sind, dass Herr P. mit dem von ihm geführten Wohnmobil zunächst auf den von Frau R. zum Stehen gebrachten Pkw auffuhr und dieses dadurch auf den Pkw des Herrn W. aufgeschoben wurde, fällt die nach vorstehenden Feststellungen allein zu berücksichtigende vom Sattelzug ausgegangene Betriebsgefahr bei einer Abwägung aller unfallursächlichen Umstände neben dem Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Herrn P., nicht mehr regressbegründend ins Gewicht.

Das Verschulden des Herrn P. liegt darin, dass er entweder infolge der Nichteinhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstandes oder wegen eines Aufmerksamkeits- oder Reaktionsverschuldens es als Einziger nicht mehr geschafft hat, sein Wohnmobil rechtzeitig zum Stillstand zu bringen.

Da unter beiden Sachverhaltsalternativen eine Regressverpflichtung des geklagten gegenüber der Klägerin nicht in Betracht kommt, ist eine weitere Sachverhaltsaufklärung, insbesondere zu der Behauptung der Klägerin, bei den vorangegangenen Bremsmanövern habe es sich um „Notbremsungen“ gehandelt, nicht geboten. Was mindestens drei Fahrern (W., V. und R.) gelungen ist, hätte entweder bei Einhaltung des gebotenen Sicherheitsabstandes oder bei gehöriger Aufmerksamkeit auch Herrn P. gelingen müssen.

Das Gericht verkennt nicht, dass es ohne den „Reifenplatzer“ an dem bei dem Beklagten kraftfahrthaftpflichtversicherten Sattelzug nicht zu den Schäden gekommen wäre, für die die Klägerin eingetreten ist und die den Gegenstand des vorliegenden Regressrechtsstreits bilden.

Bei der Abwägung dieses Verursachungsbeitrages mit dem Verursachungsbeitrag des Herrn P. und unter Berücksichtigung seines ganz erheblichen Verschuldensbeitrages kann aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich der „Reifenplatzer“ und das Blockieren der mittleren Hauptfahrbahn durch das dort tagen gebliebene Reifenteil infolge der nachfolgenden erfolgreichen Brems- und Ausweichmanöver von mindestens drei Fahrern (W., V. und R.) nur in untergeordneter Bedeutung für die Kollision des von Herrn P. geführten Wohnmobils mit dem von Frau R. geführten Pkw ausgewirkt hat. Der „Reifenplatzer“ als auch für Frau R. nur mittelbarer Anlass zum Anhalten, ist im Grunde genommen austauschbar mit einem anderen Grund, der Frau R. mittelbar zum Anhalten veranlasst hätte. Vielmehr als eine Ausgangsursache im rein naturwissenschaftlichen Sinne bildet der „Reifenplatzer“ für die Kollision des von Herrn P. geführten Wohnmobils mit dem von Frau R. zum Stillstand gebrachten Pkw nicht. Es fehlt im hiesigen Gesamtschuldnerinnenverhältnis jedenfalls ein so erheblicher Zurechnungszusammenhang, der es gebieten würde, den „Reifenplatzer“ bei der hier entscheidenden Frage des Umfanges des Innenregresses eben dem Verursachens- und Verschuldensbeitrag des Fahrers des bei der Klägerin kraftfahrthaftpflichtversicherten Wohnmobils mit einer Quote, auch keiner geringeren als der von der Klägerin vorgestellten, zu berücksichtigen.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 Satz 1 und 2 ZPO.

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