LG Kempten, Az.: 53 S 1209/15, Beschluss vom 05.11.2015
Gründe
Die Kammer beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 23.7.2015, Az. 2 C 844/14, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil sie einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
Ohne Erfolg wendet sich der Kläger dagegen, dass das Amtsgericht Kempten ihm die alleinige Haftung an dem Verkehrsunfall vom 29.4.2014 gegen 15.00 Uhr auf der A 7, AS Dietmannsried, auferlegt hat.
Bei Abwägung der Verursachungs-Verschuldensanteile gem. § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG war auf Seiten des Klägers ein zurechenbarer schuldhafter Verstoß gem. §§ 18 Abs. 3, 5 Abs. 4 StVO zu berücksichtigen, da die Fahrerin seines Pkws, die Zeugin G das Vorfahrtsrecht der Beklagten zu 1) missachtet und sich beim Überholen nicht so verhalten hat, dass die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen war.
Verkehrsteilnehmer, die sich bereits auf der Autobahn und damit auf den durchgehenden Fahrspuren befinden, haben gemäß § 18 Abs. 3 StVO Vorfahrt vor Fahrzeugen, die auf Autobahnen auffahren wollen.
Regelmäßig trifft daher das Fahrzeug die volle Haftung, das von der Autobahnauffahrt oder einem Autobahnkreuz kommend auf die Autobahn auffährt und dann einen Unfall verursacht (OLG Köln NZV 99, 43; NZV 06, 420).
Der auf die Autobahn Einfahrende muss sich grundsätzlich zunächst in den Verkehrsfluss auf der Normalspur einfügen, um einerseits sich selbst in die konkrete Verkehrssituation auf der Autobahn einzuführen und zum anderen seine Rolle im Autobahnverkehr für die anderen Verkehrsteilnehmer berechenbar zu machen.
Zum Überholen darf er nicht ansetzen, solange nicht die Gewissheit besteht, dass sich ihm kein schnelleres Fahrzeug nähert, das durch das Überholen gefährdet werden könnte (OLG Hamm NZV 1992, 320).
Dabei muss er angesichts fehlender Geschwindigkeitsbeschränkungen bei übersichtlichen Straßenverhältnissen damit rechnen, dass im Hochgeschwindigkeitsbereich gefahren werden könnte (BGH NJW 1986,1044).
Diesen erhöhten Sorgfaltsanforderungen hat die Zeugin M nicht genügt.
Die Unfallanalyse durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. W hat ergeben, dass der Unfall für die Zeugin M vermeidbar gewesen wäre, wenn sie den erkennbar auf der linken Fahrspur der Bundesautobahn 7 herannahenden Mercedes Benz C 230 der Beklagten zu 1) beachtet hätte und auf der rechten Fahrspur der Autobahn weitergefahren wäre (vgl. Gutachten vom 8.4.2015, Seite11 ff.).
Auf der anderen Seite lässt sich ein schuldhaft begangener Fahrfehler der Beklagten zu 1) nicht festmachen.
Ereignet sich der Auffahrunfall – wie im vorliegenden Fall – im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren, so spricht – anders als sonst – der Beweis des ersten Anscheins nicht für ein Verschulden des Auffahrenden (Buhrmann Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 18 StVO Rn. 27; BGH NJW 1982, 1595).
Dass die Beklagte zu 1) unaufmerksam und deshalb zu einer unfallvermeidenden Reaktion nicht in der Lage gewesen wäre, ist nicht erweislich.
Im Rahmen der Abwägung (§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG) der unfallursächlichen Umstände tritt die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter das sorgfaltswidrige Verhalten der Zeugin M zurück, nachdem die Zeugin bei ihrem Auffahren auf die Autobahn mit gleich anschließendem Überholmanöver ohne ausreichende Beachtung der Vorfahrt der Beklagten zu 1) einen besonders gefährlichen Verkehrsverstoß beging, welcher die Betriebsgefahr des klägerischen Pkws so erhöht hat, dass es gerechtfertigt ist, die Verantwortung für das Unfallgeschehen allein der Klägerseite aufzuerlegen.
Zwar ist anerkannt, dass eine nicht unerhebliche Überschreitung der Autobahnrichtgeschwindigkeit keinen Verschuldensvorwurf des Auffahrenden begründet, diese aber dazu führen kann, dass die Betriebsgefahr des Vorfahrtsberechtigten nicht zurücktritt, wenn sich die erhöhte Geschwindigkeit nachweislich betriebsgefahrerhöhend ausgewirkt hat (vgl. OLG Hamm, NZV 2011, 248; NJW-RR 2000, 172).
Diese Voraussetzungen sind allerdings nicht gegeben.
Bei Bestimmung der Verursachungsbeiträge dürfen zum Nachteil der einen oder anderen Seite nur feststehende Umstände berücksichtigt werden, und zwar nur solche, die sich auch nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH NZV 07,190).
Danach steht aufgrund der Untersuchungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. W schon nicht fest, dass die Beklagte zu 1) die Richtgeschwindigkeit nicht nur unerheblich überschritten hat.
Bei Wahrnehmungsbeginn fuhr die Beklagte zu 1) entsprechend den Untersuchungen des Sachverständigen mit einer Geschwindigkeit VwR2 = 130 …146 km/h. Ein Überschreiten, bzw. ein nicht unerhebliches Überschreiten der Richtgeschwindigkeit ist daher nicht nachweisbar.
Darüber hinaus wäre Voraussetzung, dass die Beklagte zu 1) bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit den Unfall durch eine Bremsung gefahrlos hätte vermeiden können (vgl. OLG Hamm, NZV 2000, 42).
Auch dies ist nicht der Fall, nachdem neben der Einhaltung einer Geschwindigkeit von Vvz<121…131 km/h Voraussetzung gewesen wäre, dass die Beklagte zu 1) eine Vollbremsung/Notbremsung hätte durchführen müssen, welche von einer Vielzahl der Verkehrsteilnehmer nicht beherrscht wird (vgl. Gutachten vom 26.5.2015 Seite 2).
Im Ergebnis ist auch nach Auffassung der Berufungskammer eine volle Haftung der Klägerseite am verfahrensgegenständlichen Verkehrsunfall gerechtfertigt.
Das Rechtsmittel kann daher keinen Erfolg haben.
Bei dieser Sachlage regt die Kammer zur Reduzierung der Kosten die Rücknahme der Berufung an (eine Rücknahme im derzeitigen Verfahrensstadium führt zur Reduzierung der Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren im Allgemeinen von 4,0 auf 2,0 Gebühren).
Die Berufungsklagepartei hat Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 27.11.2015.