Wer einen anderen Verkehrsteilnehmer rücksichtslos überholt, sodass dieser gezwungen ist auszuweichen oder abzubremsen, um einen Unfall zu vermeiden erfüllt dadurch allein nicht den Tatbestand einer Nötigung nach dem Strafgesetzbuch. Im vorliegenden Fall entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf, dass der Überholvorgang lediglich einem schnelleren Vorankommen im Straßenverkehr diente und kein anderer Zweck in Bezug auf eine Strafbarkeit wegen Nötigung erkennbar sei.
OLG Düsseldorf
Beschluss vom 09.08.2007
Az.: III-5 Ss 130/07 – 61/07 I
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der XXIII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 7. März 2007 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt und ein 3-monatiges Fahrverbot verhängt. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten verworfen. Dessen Revision hat mit der Sachrüge vorläufig Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
„Am 22. Juni 2005 befuhr der Angeklagte die Weberstraße in Fahrtrichtung Bergheimer Straße in Neuss. An der Kreuzung Weberstraße/Bergheimer Straße zeigte die für ihn geltende Lichtzeichenanlage Rot. Er musste daher sein Fahrzeug hinter dem in erster Position an der Ampel mittig auf dem Fahrstreifen stehenden Motorrad anhalten. Das Motorrad wurde von dem Zeugen E. gesteuert, auf dem Soziasitz saß seine Ehefrau, die Zeugin K.. Als die Lichtzeichenanlage auf Grün wechselte, beschleunigten sowohl der Zeuge E. als auch der Angeklagte ihre Fahrzeuge relativ zügig. Nach dem Passieren der gegenüberliegenden linksseitig angeordneten Verkehrsinsel zog der Angeklagte seinen Wagen nach links auf die Gegenfahrbahn, um das Motorrad zu überholen. Bereits in diesem Zeitpunkt war deutlich erkennbar, dass sich die Fahrbahn nach ca. 20 Metern deutlich verengen würde und der Überholvorgang nur bei einem deutlichen Abbremsen des Motorrads ausgeführt werden könnte. In dem Bereich hinter der rechtsseitig liegenden Tankstellenauffahrt, wo sich der Bürgersteig nach der Auffahrtsenkung wieder anhebt, kam es dazu, dass der Pkw des Angeklagten und das Motorrad auf gleicher Höhe nebeneinander fuhren. Nachdem die Fahrzeuge nunmehr auf die Fahrbahnverjüngung zufuhren, zog der Angeklagte seinen Pkw nach rechts und drängte dadurch das Motorrad ebenfalls immer weiter nach rechts in Richtung Bordsteinkante. Dadurch blieben zwischen dem Pkw des Angeklagten und dem Motorrad des Zeugen E. nur wenige Zentimeter Abstand. Nachdem der Pkw des Angeklagten dem Motorrad des Zeugen E. gefährlich näher kam, musste der Zeuge E., um nicht gegen die Bordsteinkante zu fahren und zu verunglücken, sein Motorrad stark abbremsen, um den Pkw des Angeklagten passieren zu lassen.
Als der Angeklagte an der nächsten Lichtzeichenanlage wieder bei Rotlicht anhalten musste, hielt der Zeuge E. neben diesem auf der Linksabbiegerspur und fragte den Angeklagten, was das eben zu bedeuten gehabt habe. Der Angeklagte antwortete dem Zeugen E. daraufhin sinngemäß: Sie haben rechts zu fahren!“
2. Diese Feststellungen tragen nicht den Schuldspruch wegen Nötigung.
a) Nicht jeder vorsätzliche Regelverstoß im Straßenverkehr, der ein Nötigungselement enthält, ist deshalb eine Nötigung im Sinne des § 240 StGB (vgl. BGHSt 23, 4, 7; 48, 233, 238). Die jedermann zugängliche Erfahrung lehrt, dass „im heutigen Straßenverkehr sich Verkehrsteilnehmer ständig gegenseitig irgendwie behindern“ (Rüth, in: LK, 10. Aufl. [1988], § 315b Rdnr. 18; König NStZ 2004, 175, 177). Für solche Fälle stellt die Rechtsordnung ein abgestuftes System von Sanktionen bereit: Wer vorsätzlich gegen eine Verkehrsregel verstößt und dadurch einen anderen behindert, handelt regelmäßig nach § 49 StVO ordnungwidrig im Sinne von § 24 StVG (vgl. nur Nr. 1.2, 2.1, 3.2, 30, 33, 37.1, 38.1, 49, 51, 52 BKatV). Begeht er dabei eine der „sieben Todsünden“ im Straßenverkehr und führt das zu einem „Beinahe-Unfall“ (BGHSt 48, 119, 124 f mwN), macht er sich nach § 315c StGB wegen Gefährdung des Straßenverkehrs strafbar. Setzt er das von ihm geführte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig mit der Folge eines „Beinahe-Unfalls“ ein, ist er nach § 315b StGB wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehrs zu bestrafen (BGHSt 48, 233, 236 f mwN).
b) Nach allgemeiner Meinung, die der Senat teilt, erfüllen bestimmte Verhaltensweisen im Straßenverkehr den Straftatbestand der Nötigung im Sinne des § 240 StGB (vgl. Maatz NZV 2006, 337 m. zahlr. Nachw.). Das sind namentlich die Fälle, in denen ein Kraftfahrer dicht und bedrängend auf seinen Vordermann auffährt (zuletzt BVerfG NJW 2007, 1669 mwN = DAR 2007, 386 m. Anm. Huhn), seinen Hintermann – aus welchen Gründen auch immer – absichtlich „ausbremst“ oder vorsätzlich einen unerwünschten Verfolger „abdrängt“. Gemeinsamer Nenner dieser und ähnlicher Fälle ist, dass die Einwirkung auf den anderen Verkehrsteilnehmer nicht die bloße Folge, sondern der Zweck des verbotswidrigen Verhaltens ist (vgl. BGHSt 7, 379, 380; 21, 301, 302; 41, 231, 234; 48, 233, 238; BGH VRS 64 [1983], 267, 268; jeweils zur Abgrenzung des gefährlichen Eingriffs von der Gefährdung des Straßenverkehrs; MK-Gropp/Sinn [2003], § 240 Rdnr. 103; SK-Horn/Wolters, 7. Aufl. [2003], § 240 Rdnr. 7). Der Erfolg – dass der andere den Weg frei macht, bremsen muss oder nicht überholen kann – ist für den Täter „das Ziel seines Handelns“ (BGHSt 7, 379, 380). Auf den „bloß“ rücksichtslosen Überholer trifft das in aller Regel nicht zu. Sein Ziel ist, schneller voranzukommen. Dass dies auf Kosten anderer geschieht, ist nur die in Kauf genommene Folge seiner Fahrweise. Ein Schuldspruch wegen Nötigung scheidet in einem solchen Fall aus (teilw. aA OLG Stuttgart NZV 1995, 285; OLG Köln NZV 1995, 405; VRS 98 [2000], 124).
c) Die Feststellungen bieten keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass – und warum – der Angeklagte mit seinem Fahrmanöver einen anderen Zweck als den verfolgt haben könnte, schneller voranzukommen. Der Schuldspruch wegen Nötigung kann deshalb nicht bestehen bleiben.
3. Nach §§ 353, 354 Abs. 2 Satz 1 StPO ist das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückzuverweisen, denn der angeklagte Lebensvorgang ist bisher nicht unter dem – nicht nur fernliegenden – rechtlichen Gesichtspunkt der vorsätzlichen oder zumindest fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs durch falsches Überholen, § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b), Abs. 3 StGB beurteilt worden.
Im Falle eines Schuldspruchs wird der Zeitablauf Anlass sein zu prüfen, ob von der Verhängung des Fahrverbots abzusehen oder ein kürzeres Fahrverbot anzuordnen ist, wenn der Angeklagte seither keine weiteren Verkehrsverstöße begangen hat (zum Einfluss des Zeitablaufs auf die Entscheidung, ob ein Fahrverbot anzuordnen ist, vgl. BGH wistra 2002, 57 = zfs 2004, 133; BayObLG DAR 2002, 275 mit zahlreichen Nachw.; OLG Schleswig DAR 2002, 326; OLG Hamm StV 2004, 489; Janiszewski/Jagow/Burmann, StVR, 19. Aufl. [2006], § 25 StVG Rdnr. 1b mwN).