Oberlandesgericht bestätigt Haftungsfreiheit bei Verkehrsunfall ohne Bremsspuren
Im Urteil des Oberlandesgerichts Sachsen-Anhalt, Az.: 10 U 11/13, wurde die Berufung der Klägerin abgewiesen, die Schadensersatz für einen Verkehrsunfall forderte, da das Gericht nach ausführlicher Prüfung der Beweise entschied, dass der Unfall überwiegend durch das Fehlverhalten des Klägers verursacht wurde. Das Gericht stützte seine Entscheidung auf die vollständige Entlastung der Beklagten von der Betriebsgefahr und die Bewertung der Beweislage, einschließlich Zeugenaussagen und unfallanalytischen Betrachtungen, die bestätigten, dass der Kläger beim Abbiegen die Kurve geschnitten und somit den Unfall verursacht hatte.
Übersicht
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Die Berufung der Klägerin wurde zurückgewiesen, da sie nicht beweisen konnte, dass die Beklagten für den Verkehrsunfall verantwortlich waren.
- Das Gericht fand heraus, dass der Unfall hauptsächlich durch das „Kurvenschneiden“ des Klägers verursacht wurde, wobei er gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen hatte.
- Fehlende Bremsspuren wurden als irrelevant angesehen, da das Fahrzeug der Beklagten mit einem Antiblockiersystem (ABS) ausgestattet war.
- Das Landgericht hatte die Klage bereits abgewiesen und diese Entscheidung wurde vom Oberlandesgericht bestätigt.
- Die Kosten des Verfahrens wurden der Klägerin auferlegt.
- Die Berufung war zulässig, scheiterte jedoch in der Sache selbst, da die rechtliche und sachliche Beurteilung durch das Landgericht als korrekt angesehen wurde.
- Es wurde kein Anlass gesehen, die Revision zuzulassen.
Verkehrsunfälle: Moderne Technik und ihre Auswirkungen
Fehlende Bremsspuren sind in der Vergangenheit oft als Indiz für überhöhte Geschwindigkeit oder fehlende Reaktion der Fahrer gewertet worden. Mit der heutigen Serienmäßigen Ausstattung von Kraftfahrzeugen mit Antiblockiersystemen (ABS) stellt sich jedoch die Frage, inwieweit dieses Indiz noch Beweiskraft hat.
Moderne Fahrzeugtechnik birgt viele Chancen für mehr Sicherheit, führt aber gleichzeitig zu neuen juristischen Fragestellungen. Eine differenzierte Betrachtung ist nötig, um Fehlbewertungen der Unfallsituation zu vermeiden und angemessene rechtliche Konsequenzen ziehen zu können.
➜ Der Fall im Detail
Sachverhalt des Verkehrsunfalls in Sachsen-Anhalt
Der Fall betrifft einen Verkehrsunfall, der sich am 16. März 2012 ereignete. Dabei waren die Klägerin als Eigentümerin eines RENAULT MASTER Transporters und der Beklagte, der einen MERCEDES B200 fuhr, involviert.
Beide Fahrer beabsichtigten, an einer Kreuzung in S. nach links abzubiegen, als es zu einem Zusammenstoß kam. Der Unfall führte zu Schäden an den vorderen linken Fahrzeugseiten. Die Klägerin forderte daraufhin Schadensersatz, wobei sie behauptete, der Unfall habe sich im Kreuzungsbereich ereignet. Die Beklagten, unterstützt durch Zeugenaussagen und Lichtbilder aus der Bußgeldakte, argumentierten jedoch, dass der Unfall außerhalb des Kreuzungsbereichs stattfand, was sie von der Haftung befreite.
Urteil des Landgerichts und Berufungsverfahren
Das Landgericht Stendal wies die Klage der Klägerin ab, da es die Beweise so wertete, dass die Beklagten sich erfolgreich von der Betriebsgefahr entlasten konnten. Die Klägerin legte gegen dieses Urteil Berufung beim Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt ein, beharrte auf ihrem Standpunkt und forderte die Erstellung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens. Die Beklagten verteidigten das erstinstanzliche Urteil und wiederholten ihre Argumentation.
Entscheidungsgründe des Oberlandesgerichts
Das Oberlandesgericht bestätigte das Urteil des Landgerichts und wies die Berufung der Klägerin als unbegründet zurück. Es fand keine Rechtsverletzungen und stellte fest, dass die Tatsachen des Falls keine andere Entscheidung rechtfertigen würden. Das Gericht stützte sich auf die umfassende Beweisaufnahme und die korrekte Bewertung durch das Landgericht, insbesondere die Analyse der Scherbenlage und die Positionsbestimmung der Fahrzeuge nach dem Unfall.
Bedeutung der fehlenden Bremsspuren und rechtliche Würdigung
Interessant in diesem Fall war der Hinweis auf die fehlenden Bremsspuren, die aufgrund des Vorhandenseins von Antiblockiersystemen (ABS) nicht mehr zwingend auf die Fahrgeschwindigkeit oder das Bremsverhalten schließen lassen. Dies war jedoch für die Entscheidung letztlich irrelevant, da das Gericht die Sachlage umfassend ohne dieses Element bewertet hatte. Es wurde festgestellt, dass der Unfall primär durch das „Kurvenschneiden“ des Klägers verursacht wurde, was einen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot darstellt.
Rechtsfolgen und Verfahrenskosten
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts hat zur Folge, dass die Klägerin die Kosten des Berufungsverfahrens tragen muss. Das Gericht ließ auch keine Revision zu, was bedeutet, dass das Urteil endgültig ist. Die Entscheidung verdeutlicht die Bedeutung einer präzisen Unfallrekonstruktion und die Herausforderungen, die sich aus der Interpretation technischer Beweismittel wie ABS-Systemen ergeben.
✔ Häufige Fragen – FAQ
Welche Rolle spielt das Antiblockiersystem (ABS) bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen?
Das Antiblockiersystem (ABS) spielt eine wichtige Rolle bei der Unfallanalyse und Rekonstruktion von Verkehrsunfällen. ABS verhindert bei einer Vollbremsung das Blockieren der Räder, sodass das Fahrzeug lenkbar bleibt und nicht ins Schleudern gerät. Dadurch können deutlich kürzere Bremswege erreicht werden.
Für die Unfallanalyse ist relevant, dass Fahrzeuge mit ABS bei einer Notbremsung in der Regel keine durchgehenden Bremsspuren hinterlassen, da die Räder nicht blockieren. Das Fehlen von Bremsspuren bedeutet also nicht zwangsläufig, dass nicht gebremst wurde. Gutachter müssen dies bei der Rekonstruktion des Unfallhergangs und der Beurteilung des Fahrverhaltens berücksichtigen.
Studien zeigen jedoch auch, dass ABS das Risikoverhalten mancher Fahrer erhöhen kann. In dem Gefühl, ein sicheres Fahrzeug zu steuern, fahren sie zum Beispiel schneller in Kurven oder halten geringere Sicherheitsabstände. Dieser Effekt der Risikokompensation kann die Unfallgefahr trotz ABS erhöhen.
Insgesamt trägt ABS aber wesentlich zur Fahrsicherheit und Unfallvermeidung bei. Seit 2004 ist es in Deutschland für alle Neuwagen Pflicht. Bei der Unfallaufnahme muss die Polizei prüfen, ob die beteiligten Fahrzeuge mit ABS ausgestattet sind, da dies die Interpretation vorhandener Spuren beeinflusst. Auch Sachverständige benötigen diese Information für eine korrekte Unfallanalyse und die Klärung von Schuldfragen.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 2 Abs. 2 StVO – Rechtsfahrgebot
Das Rechtsfahrgebot verlangt von Fahrzeugführern, möglichst weit rechts zu fahren. Im Fall wurde das Kurvenschneiden des Klägers als Verstoß gegen dieses Gebot identifiziert, was wesentlich zur Klärung der Schuldfrage beitrug. - §§ 511, 517, 519 f. ZPO – Zulässigkeit der Berufung
Diese Paragraphen regeln die Voraussetzungen und Formalitäten einer Berufung im deutschen Zivilprozessrecht. Im vorliegenden Fall war die Berufung zwar formal zulässig, jedoch inhaltlich unbegründet. - § 41b StVZO – Antiblockiersysteme (ABS)
Dieser Paragraph behandelt die technischen Anforderungen an Kraftfahrzeuge bezüglich ihrer Bremsanlagen, einschließlich ABS, das dazu dient, das Blockieren der Räder beim Bremsen zu verhindern. Im Kontext des Falles waren fehlende Bremsspuren durch das Vorhandensein von ABS erklärt. - § 97 Abs. 1 ZPO – Kostenentscheidung bei Abweisung einer Klage
Nach diesem Gesetz trägt die unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens. Die Klägerin wurde zur Tragung der Kosten verpflichtet, nachdem ihre Berufung als unbegründet abgewiesen wurde. - §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO – Vorläufige Vollstreckbarkeit
Diese Vorschriften regeln die Bedingungen, unter denen Urteile vorläufig vollstreckbar sind, auch ohne Sicherheitsleistung. Dies wurde im Urteil angewandt, wodurch es sofort wirksam, aber noch anfechtbar war. - § 543 Abs. 2 ZPO – Keine Zulassung der Revision
Bestimmt die Voraussetzungen unter denen eine Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen wird. Im besprochenen Urteil sah das Gericht keinen Grund für eine Revision, was die Endgültigkeit der Entscheidung unterstrich.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt – Az.: 10 U 11/13 – Urteil vom 10.01.2014
Die Berufung der Klägerin gegen das am 19. Februar 2013 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Stendal – Geschäfts-Nr.: 23 O 308/12 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Dieses Urteil ist ebenso wie das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
I.
Die Klägerin – im Berufungsrechtszug klargestellt: als Fahrzeugeigentümerin – verlangt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 16. März 2012 gegen 14.25 Uhr, dessen Ablauf im Wesentlichen aus der informationshalber beigezogenen Bußgeldakte der Staatsanwaltschaft Stendal mit der Geschäfts-Nr. 590 Js 10275/12 ersichtlich ist:
Der Ehemann der Klägerin wollte in S. mit ihrem Transporter RENAULT MASTER links abbiegen, von wo ihm der Beklagte zu 1. mit dem Pkw MERCEDES B200 der Beklagten zu 2. – zugleich Beifahrerin, bei der Beklagten zu 3. haftpflichtversichert – entgegenkam und ebenfalls nach links abbiegen wollte. Beide Fahrzeuge stießen vor oder im Kreuzungsbereich zusammen und wurden jeweils vorne im linken Bereich beschädigt.
Das erstinstanzliche Landgericht hat die Klage abgewiesen: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme – Zeugenvernehmung des Ehemanns der Klägerin und der beiden unfallaufnehmenden Polizisten – sowie der Lichtbilder in der o.g. Bußgeldakte und den dort festgehaltenen Angaben der Unfallbeteiligten sei es den Beklagten gelungen, sich vollständig von der Betriebsgefahr zu entlasten; insbesondere habe sich der Unfall hinter dem Einmündungsbereich ereignet – und nicht etwa, wie von der Klägerin behauptet, im Bereich der Kreuzung selbst.
Mit ihrer zulässigen Berufung hält die Klägerin an ihrem Vorbringen fest und beruft sich insbesondere auf die Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens.
Die Beklagten hingegen verteidigen das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze samt eingereichten Urkunden Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere ist die Berufung statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§§ 511, 517, 519 f. ZPO).
Die danach zulässige Berufung hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Die Berufung ist vielmehr unbegründet, weil das hiermit angefochtene Urteil des Landgerichts Stendal weder auf einer Rechtsverletzung beruht noch die vom Senat zugrunde zulegenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Vielmehr hat das Landgericht die Klage nach ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dessen zutreffender Würdigung mit seinem sorgfältig begründeten Urteil auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens zu Recht abgewiesen.
Deshalb kann zur weiteren Begründung auch dieser Entscheidung ohne Weiteres auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen werden – mit der einzigen Ausnahme, dass fehlende Bremsspuren heutzutage angesichts der ein-gebauten Antiblockiersysteme (ABS) bzw. „Automatischen Blockierverhinderer“ (ABV) in der Wortwahl des § 41 b StVZO weder für eine maßvolle Geschwindigkeit noch gegen eine Vollbremsung sprechen; hierauf kommt es allerdings auch nicht an.
Denn entgegen der Auffassung der Klägerin gelten die Ausführungen zur zutreffenden Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das Landgericht Stendal auch bei einer abschließenden Gesamtschau. So spricht zum einen die sog. Scherbenlage nach dem Verkehrsunfall, wie sie insbesondere aus Bl. 7 und 11 der Beiakte ersichtlich ist, eindeutig gegen die Darlegung der Klägerin, dass die Fahrzeuge nach dem Unfall noch weiträumig bewegt worden seien. Dann jedoch folgt daraus, dass sich der Verkehrsunfall nicht bereits im Kreuzungsbereich ereignet hat, womit den Beklagten kein Vorfahrtsverstoß zur Last gelegt werden kann. Daraus wiederum folgt, dass für den Senat nicht ersichtlich ist, wie die Beklagtenseite – deren Fahrzeug nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme äußerst rechts stand bzw. fuhr – den Verkehrsunfall noch hätte vermeiden können. Hieran ändern entgegen der Auffassung der Klägerin auch die Bekundungen des Zeugen A. nichts. Dessen Vermutungen sind ohnehin unerheblich, und es kommt letztendlich auch nicht darauf an, wer wem in der letzten Zehntelsekunde vor dem Aufprall hineingefahren ist; entscheidend ist vielmehr die Gesamtsituation des Verkehrsunfalls. Wie der Senat ferner in der mündlichen Senatsverhandlung ausgiebig dargelegt hat, fehlt es abgesehen von der eigenen Sachkunde des Senats für ein unfallanalytisches Sachverständigen- gutachten jedenfalls auch an hinreichenden Anknüpfungstatsachen. Damit muss zu Lasten der Klägerin letztendlich davon ausgegangen werden, dass Ursache des Verkehrsunfalls ganz überwiegend das „Kurvenschneiden“ ihres Ehemanns war und damit dessen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO, während ein allenfalls danebenstehender geringfügiger Verursachungsbeitrag der Beklagtenseite (Stichwort: Sonnenbrille…) vernachlässigt werden kann.
Insgesamt konnte somit auch bei einer abschließenden Betrachtung aller Gesamtumstände des Streitfalls die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben; sie musste vielmehr als unbegründet zurückgewiesen werden.
III.
Die Revision zuzulassen, bestand nach § 543 Abs. 2 ZPO kein Anlass.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.