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Videoaufnahmen im Straßenverkehr als Beweismittel nicht mehr zulässig?

Geschwindigkeitsmessungen von Fahrzeugführern die ohne einen konkreten Tatverdacht durch Videoaufzeichnungen vorgenommen werden verstoßen gegen die informationelle Selbstbestimmung der Fahrzeugführer und sind damit verfassungswidrig, solange es keine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die  Messungen vorliegt (BVerfG, Beschluss vom 11.08.2009, Az.: BvR 941/08). Es besteht deshalb ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der rechtswidrig vorgenommenen Aufzeichnungen.

Bei Verkehrsüberwachungsanlagen der Fa. VIDIT des Systems VKS 3.01 akzeptieren die ersten Gerichte die diesbezüglich gewonnenen Fahrerfotos ebenfalls nicht, da bei diesen Systemen der fließende Verkehr ebenfalls verdachtsunabhängig gefilmt wird.

AG Meißen

Az.: 13 Owi 705 Js 54110/08

Beschluss vom 05.10.2009

In der Bußgeldsache gegen wegen Verkehrsordnungswidrigkeit hat das Amtsgericht Meißen  gemäß § 72 OWiG am 5. Oktober 2009 beschlossen:

1. Der Betroffene wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Das Gericht konnte vorliegend durch Beschluss gemäß § 72 OWiG entscheiden.

Das Gericht hält die Durchführung einer Hauptverhandlung nicht für erforderlich.

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Abgabeverfügung in einer Entscheidung durch Beschluss nicht widersprochen.

Der Betroffene musste nicht auf Möglichkeit der Entscheidung durch Beschluss gemäß § 72 OWiG hingewiesen werden, da sie freigesprochen wird, § 72 Abs. 1 Satz 3 OWiG.

II.

Der Betroffene war freizusprechen. Die vorgeworfene Ordnungswidrigkeit war ihm nicht nachzuweisen. Der Betroffene hat keine Angaben zur Sache gemacht und auch die Fahrereigenschaft nicht zugestanden. Zu einer Überführung wäre eine Verwertung des Beweisfotos Blatt 1 der Akte und des Tatvideos notwendig. Bezüglich dieses Beweismittels besteht aber ein Beweisverwertungsverbot, da es ohne geeignete Rechtsgrundlage gefertigt wurde (Beweiserhebungsverbot) und somit einen ungerechtfertigten Eingriff in das Verfassungsrang besitzende Recht auf informelle Selbstbestimmung darstellt, vgl. Beschluss des Bundesverfas­sungsgerichts vom 11.08.2009, 2 BvR 941/08.

(1) Beweiserhebungsverbot
Bei der vorliegenden Maßnahme der Verkehrsüberwachung wurde das System VKS 3.01 der Firma VIDIT verwendet. Hierbei handelt es sich um ein Mess- und Aufzeichnungsverfahren, bei dem zunächst verdachtsunabhängig der gesamte Fahrzeugverkehr gefilmt wird, um in einem anschließenden Auswerteverfahren aus der Menge der vorsorglich parallel gefertigten und gespeicherten Bildern aller Fahrer, die die betroffene Straße im Überwachungszeitraum nutzten, das Bild des verdächtigen Fahrers herauszufiltern, um einen Beweis für die Fahrereigenschaft zu liefern und den Fahrer der Ordnungswidrigkeit zu überführen.

Das OLG Dresden hat in seinem Urteil vom 08.07.2005, abgedruckt in DAR 2005, 637, ausgeführt, dass das System VKS 3.01 der Firma VIDIT ein standardisiertes Abstandsmessverfahren im Sinne der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 39, 291 ff.; BGHSt 43, 277 ff.) sei. Im Urteil heißt es zur Funktionsweise:

„Das von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zur Eichung zugelas­sene Gerät VKS 3.01 ermöglicht es, aus einer Videoaufzeichnung Ge­schwindigkeiten von Fahrzeugen und deren Abstände zu vorausfahrenden Fahrzeugen zu bestimmen. Während der Messung werden in der Regel mindestens zwei Videoaufzeichnungen vorgenommen. Mit der Tatvideoauf­zeichnung wird die Abstands- und Geschwindigkeitsmessung durchgeführt. Die Fahrervideoaufzeichnung dient der Fahreridentifizierung und der Kenn­zeichenerfassung. Die Messung und die Auswertung des Tatvideos werden dabei wie folgt durchgeführt:

Der auflaufende Verkehr wird in einem bestimmten Fahrbahnabschnitt mit einer Videokamera von einem festen, mindestens drei Meter über der Fahrbahnoberfläche liegenden Kamerastandpunkt aufgenommen. Während der Aufnahme wird das Videosignal kodiert. Der Kodierer zählt in dem Vi­deosignal die einzelnen Videobilder (Voll- und Halbbild). Der zeitliche Ab­stand von zwei aufeinanderfolgenden Videohalbbildern beträgt 1/50 Se­kunde. Die Auswertung des so kodierten Videobandes wird mittels eines Computersystems durchgeführt. Dabei wird die Perspektive im Videobild berechnet und eine perspektivische Transformation durchgeführt. Auf die­se Weise können beliebige Punkte auf der Fahrbahnoberfläche digitalisiert und der zurückgelegte Weg eines Fahrzeuges sowie im Zusammenhang mit der Kodierung die Geschwindigkeit des Fahrzeuges berechnet werden.

Die Messung ist nur auf dafür eingerichteten Fahrbahnabschnitten möglich. Dabei werden auf der Fahrbahnoberfläche vier Punkte (Passpunkte) mar­kiert, die ein Viereck aufspannen. Zusätzlich werden zwei Kontrollpunkte markiert. Die Pass- und Kontrollpunkte werden mit einem geeichten Län­genmessgerät oder einem elektrooptischen Tachymeter vermessen. Beim Einrichten der Messstelle wird ein Referenzvideo aufgezeichnet. Die Auf­stellhöhe der Kamera bei Erstellung des Referenzvideos wird dokumentiert und darf bei den späteren Tatvideoaufzeichnungen nicht unterschritten werden.

Das Tatvideo wird mit Hilfe eines Computerprogramms ausgewertet. Dabei wird zunächst die in der beschriebenen Weise eingerichtete Messstelle ausgewählt. Von der auswertenden Person werden sodann die Pass- und Kontrollpunkte der Messstelle mit Hilfe eines Fadenkreuzes im Tatvideobild anvisiert und digitalisiert. Das Programm berechnet die Perspektive und nimmt dabei eine interne Genauigkeitsberechnung vor. Erst wenn die zu­lässigen Toleranzen eingehalten sind, lässt das Programm eine weitere Auswertung der Videoaufzeichnung zu.

Die Abstands- und Geschwindigkeitsmessungen werden im Tatvideo mit einer Messlinie durchgeführt. Die Messlinie ist eine in das Videobild ge­rechnete, quer zur Fahrbahn gelegte Linie. Sie lässt sich durch die auswer­tende Person auf dem Videomonitor dem Straßenverlauf folgend bewegen. Dabei werden die perspektivische Vorder- und Hinterkante der Messlinie bezogen auf eine Nullposition angezeigt. Für Berechnungen wird der je­weils für den Betroffenen günstigere Wert verwendet.

Für die konkrete Abstands- und Geschwindigkeitsmessung wird das Video­bild angehalten und mit Hilfe der Messlinie der Aufsetzpunkt der Vorder­achse des Fahrzeuges des Betroffenen auf der Fahrbahnoberfläche digitali­siert. Anschließend wird in demselben Videobild mit Hilfe der Messlinie der Aufstandspunkt der Vorderachse des vorausfahrenden Fahrzeugs digitalisiert. Das System errechnet den für den Betroffenen günstigsten Wert der Differenz zwischen den beiden Fahrzeugpositionen. Die Wiedergabe des Videobandes wird fortgesetzt, bis die Fahrzeuge eine Strecke von mindes­tens 25 Metern durchfahren haben. Nach erneutem Anhalten des Video­bandes wird mit der Messlinie eine weitere Abstandsmessung durch Digita­lisieren der Aufsetzpunkte der Vorderachsen durchgeführt. Nach dieser zweiten Abstandsmessung berechnet das System mit Hilfe des durch die Kodierung bekannten Zeitunterschiedes der beiden Messungen die Ge­schwindigkeit des Fahrzeugs des Betroffenen. Von der gemessenen Ge­schwindigkeit wird bei einem Wert von unter 100 km/h eine Toleranz von 3 km/h und bei einem Wert von über 100 km/h eine Toleranz in Höhe von drei Prozent des wertes abgezogen.

Schließlich wird die Fahrzeuglänge des vorausfahrenden Fahrzeuges da­durch festgestellt, dass mit der Messlinie die Hinterachse des vorausfah­renden Fahrzeuges digitalisiert wird.

Durch die jeweilige Digitalisierung der Aufsetzpunkte der Reifen auf der Fahrbahnoberfläche werden Abstände errechnet, die sich für den Betroffe­nen günstig auswirken, weil keine weiteren Abzüge für die Überhänge der Fahrzeuge vorgenommen werden. Aus der toleranzbereinigten Geschwin­digkeit und dem für den Betroffenen günstigsten Abstandswert errechnet das System den dem Betroffenen vorzuwerfenden Wert.“

Das mit diesem Messverfahren bei der Messung aufgezeichnete Video und das hieraus gewonnene Beweisfoto bzw. Bildausschnitt zum Beweis der Fahrereigen­schaft wurde unter Verstoß gegen das Grundrecht des Betroffenen auf informati­onelle Selbstbestimmung angefertigt.

Das Bundesverfassungsgericht stellte hierzu in seiner Entscheidung vom 11.8.2009, 2 BvR 941/08 fest:

„Die mittels einer Videoaufzeichnung vorgenommene Geschwindigkeits­messung stellt eine Erhebung (von) Daten (über persönliche Lebenssach­verhalte, über deren Offenbarung der Einzelne grundsätzlich selbst zu ent­scheiden hat,) und damit einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar (vgl. BVerfG, 11.03.2008, 1 BvR 2074/O5, BVerfGE 120, 378 <397 ff>). Der Grundrechtseingriff entfällt nicht dadurch, dass lediglich Verhaltensweisen im öffentlichen Raum erhoben wurden. Das all­gemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet nicht allein den Schutz der Pri­vat- und Intimsphäre, sondern trägt in Gestalt des Rechts auf informatio­nelle Selbstbestimmung auch den informationellen Schutzinteressen des Einzelnen, der sich in die Öffentlichkeit begibt, Rechnung (vgl. BVerfG, aa0, <398 f>). Es liegt auch kein Fall vor, in dem Daten ungezielt und al­lein technikbedingt zunächst miterfasst, dann aber ohne weiteren Erkennt­nisgewinn, anonym und spurenlos wieder gelöscht werden, so dass aus diesem Grund die Eingriffsqualität verneint werden könnte (vgl. BVerfG, aa0, <399>). Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kann zwar im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung bedarf aber einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht und verhältnismä­ßig ist (vgl. BVerfG, aa0, <401 ff>). Anlass, Zweck und Grenzen des Ein­griffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden (vgl. BVerfG, 23.02.2007, 1 BvR 2368/06, BVerfGK 10, 330<337 f>).“

Die Entscheidung des BVerfG vom 11.08.2009, 2 BvR 941/08, macht deutlich, dass selbstredend auch die mit der massenhaften Verkehrsüberwachung einher­gehende Beweiserhebung durch Bildaufzeichnungen (Videosequenzen oder Foto­grafien) einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage bedürfen, da hierdurch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Grundrecht des Be­troffenen auf informationelle Selbstbestimmung berührt ist.

Im Wesentlichen führt das BVerfG aus, dass durch die Videoaufzeichnung die be­obachteten Lebensvorgänge technisch fixiert würden, so dass sie später zu Be­weiszwecken abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden könnten. Eine Identifikation des Fahrers sei möglich und auch beabsichtigt. Auf den gefertigten Bildern sei das Kennzeichen des Fahrzeuges und der Fahrzeugführer zu erken­nen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei zwar nicht unantastbar und ein solcher Eingriff nicht grundsätzlich von Staats wegen auszuschließen. Dieser bedürfe aber einer Ermächtigungsgrundlage durch ein Gesetz im Sinne des Art. 20 GG.

Die dem Beschluss vorangegangenen Entscheidungen benannte als Ermächti­gungsgrundlage stattdessen lediglich eine Verwaltungsvorschrift des Landesin­nenministeriums von Mecklenburg-Vorpommern, deren Heranziehung im Urteil als willkürlich und dieses damit ebenfalls als verfassungswidrig bewertet wurde. Das Bundesverfassungsgericht hob die Vorentscheidungen auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme an das AG Güstrow mit der Begründung zurück, es sich nicht auszuschließen, dass die Feststellung eines Verkehrsverstoßes in dem vorliegenden Verfahren nur unter Zuhilfenahme von Daten erfolgen könne, die ohne ausreichende Ermächtigungsgrundlage erhoben wurden. Das damit einhergehende Beweiserhebungsverbot könne ein Beweis­verwertungsverbot nach sich ziehen, was wiederum zur Folge haben könne, dass der Betroffene freizusprechen sei.

Dem ist zu entnehmen, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Verkehrs­überwachung Fallgestaltungen ins Auge fasst, für die es eben keine Ermächti­gungsgrundlage als gegeben ansieht.

Das Gericht vertritt die Auffassung, dass all jene Bildaufzeichnungen in Messverfahren, bei denen
1. der gesamte Fahrzeugverkehr videoüberwacht wird während gleichzeitig Messdaten aufgezeichnet werden, die in einem späteren Auswerteverfah­ren einzelnen Bild- oder Videosequenzen zum Zwecke der Feststellung des Fahrzeugführers automatisch oder manuell zugeordnet werden oder
2. gleichzeitig mit Beginn des Messverfahrens die Videoaufzeichnung des gemessenen Fahrzeuges manuell oder automatisch beginnt, ohne dass bereits ein konkreter Tatverdacht gegen den Fahrer des gemessenen Fahrzeuges bejaht wurde,

ohne ausreichende Ermächtigungsgrundlage gefertigt und damit ein verfassungswidriger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind.

Nicht erfasst sind nach Auffassung des Gerichts hiervon Fälle, in denen das Auf­zeichnungs- und Messverfahren erst dann – automatisch oder manuell – eingelei­tet wird, nachdem der Verkehrsverstoß bereits festgestellt wurde oder der Fahr­zeugführer, etwa während des Hinterfahrens, bereits auffällig geworden ist und dieses auffällige Fahrverhalten mit dem später gemessenen und gleichzeitig gefilmten tateinheitlich ist. Für Bildaufnahmen, die diesen Grundsätzen nicht ent­sprechen, gilt ein Beweiserhebungsverbot.

Das Gericht hat hierzu folgende Überlegungen angestellt:

Denkbare Ermächtigungsgrundlagen, die einen Eingriff in das Recht auf informa­tionelle Selbstbestimmung rechtfertigen und den Anforderungen des Grundgeset­zes und der Rechtsprechung des BVerfG’s genügen, sind §§ 163 b Abs. 1 StPO und 100 h Abs. 1 StPO, beide iVm § 46 OWiG. Diese Normen setzen jedoch im­mer das Bestehen zumindest eines Anfangverdachts gegen den von der Video- ­oder Bildaufzeichnung betroffenen Fahrer voraus. Ein Generalverdacht etwa der­gestalt, dass an bestimmten Stellen oder zu bestimmten Zeiten häufig oder so­gar regelmäßig Verkehrsverstöße begangen werden, reicht selbstredend nicht aus.

§ 81 b StPO iVm § 46 OWiG scheidet als Ermächtigungsgrundlage aus, weil hier­durch eingeleitete Maßnahmen die Beschuldigteneigenschaft des Verdächtigen voraussetzen, die zum Zeitpunkt der Verkehrsüberwachung noch nicht besteht.

Die Tatverdacht ausreichen lassen den §§ 163 b, 163 c StPO sind im Bußgeldver­fahren zwar sinngemäß anzuwenden, soweit das OWiG nichts anderes bestimmt (§ 46 Abs. 1 OWiG; OLG Köln NJW 1982, 296 f; Erb LR Rn 8). Doch § 163 b Abs. 1 StPO iVm § 46 OWiG rechtfertigt Bildaufnahmen zur Identitätsfeststellung eben nur eines Verdächtigen, also erst die Aufnahmen, die manuell oder automatisch ausgelöst wurden, nachdem ein Verkehrsverstoß durch eine Überwachungsein­richtung oder einen den Verkehr beobachtenden Polizeibeamten festgestellt wur­den. Weitere Voraussetzung ist zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsat­zes das Vorliegen des Verdachts einer erheblichen Ordnungswidrigkeit (Karlsru­her Kommentar, StPO, 163 b, Rdnr 4). Dies folgt daraus, dass durch in § 163 b StPO ermöglichten Maßnahmen stets Grundrechte betroffen sind. Angesichts der Gefahr, die von Geschwindigkeitsüberschreitungen und Abstandsunterschreitun­gen für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer außerhalb und innerhalb des be­troffenen Fahrzeuges regelmäßig ausgeht, werden dies nach Auffassung des Ge­richts indes auch regelmäßig erhebliche Ordnungswidrigkeiten sein, wobei es gleichwohl im Einzelfall anders sein kann.

§ 163 b Abs. 2 StPO iVm § 46 OWiG legitimiert zwar Maßnahmen zur Identitäts­feststellung von Personen, die einer Straftat nicht verdächtig sind, jedoch unter der einschränkenden Voraussetzung, dass dies zur Aufklärung einer Straftat ge­boten sein muss. Es muss also auch hier bereits eine Straftat rsp. über § 46 OWiG eine Ordnungswidrigkeit vorliegen und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betroffene als Zeuge oder Augenscheinsobjekt benötigt wird (Meyer-Goßner StPO § 163b Rn 15; Karlsruher Kommentar, StPO § 163b Rn 27). Nicht zulässig ist nach dieser Norm, vorsorglich Daten von unverdächtigen Personen zu erheben, um sie einer eventuell noch zu begehenden Ord­nungswidrigkeit zu überführen.

§ 100 h Abs. 1 Nr. 1 StPO kommt als geeignete Ermächtigungsgrundlage nur für Videomitschnitte in Betracht, die (zeitlich) nach dem Vorliegen eines Anfangsver­dachts einer Ordnungswidrigkeit, was ausreicht (KK, StPO, Vorbemerkungen zu §§ 94-lilp Rdnr. 4), ausgelöst werden. Soweit das AG Grimma, Zweigstelle Wurzen, im Urteil vom 31.08.2009, Az. 003 Owi 153 Js 30059/09 die Auffassung vertritt, § 100 h StPO meine die Herstellung von Bildern zur Observation und die Fertigung von Bildern zur Beweissicherung und Auswertung falle nicht unter die­se Vorschrift, verkennt es den Regelungsinhalt der Norm. Angesichts der durch dieses Gesetz zur Verfügung gestellten Vielzahl der Mittel ist auch hier stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bezüglich der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit zu prüfen (KK, StPO, § 100 h Rdnr. 4).

Dem steht die Entscheidung des AG Schweinfurt vom 31.08.2009, Az. 12 OWi 17 Js 7822/09, nicht entgegen. Dieses sah das dort verwendete Bildaufzeichnungs­verfahren von § 100 h StPO iVm 46 OWiG gerechtfertigt. Hierzu verglich das AG Schweinfurt das Videoverfahren, welches der Entscheidung des BVerfG zugrunde lag mit jenem, welches in der von ihm zu entscheidenden Sache verwendet wur­de und kam zu dem Schluss, dass diese nicht identisch seien. Sinngemäß führt das AG Schweinfurt aus:

Der Entscheidung des BVerfG vom 11.08.2009, 2 BvR 941/08, habe ein Ordnungswidrigkeitenvorwurf, die fahrlässige Überschreitung der zulässi­gen Höchstgeschwindigkeit um 29 km/h am 04.05.2006 überschritten zu haben, zugrunde gelegen, der unter Verwendung des Verkehrskontrollsys­tems Typ VKS 3.0 der Firma V erhoben worden sei. Hierbei handele es sich um das mittlerweile überholte Abstands- und Geschwindigkeitskontrollsys­tems VKS 3.0 der VIDIT Systems GmbH, welches nach einer Entscheidung des OLG Dresden (OLG Dresden DAR 2005, 637 f.) ein standardisiertes Abstandsmessverfahren im Sinne der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 39, 291 ff.; BGHSt 43, 277 ff.) sei. Auszuschließen sei, dass die der Entschei­dung des BVerfG zugrundeliegende Beweiserhebung mittels des erst nach­träglich von der PTB am 16.10.2008 zugelassenen VKS select Software­moduls (PTB 18.19 01.02) erfolgte, wonach „eine automatisierte Vorselek­tion von Abstands- und Geschwindigkeitsverstößen bei der Aufnahme“ er­folge und eine „vollautomatische Erstellung einer der Beweisdokumentati­on für die Auswertung im PTB zugelassenen VKS 3.1 System“ möglich sei. In dieser Version erfolge mittlerweile unter Berechnung des Durchfahrt­zeitpunkts eine polfilterkameragestützte Identitätsaufnahme über einen „Identifikationssensor“ erst, wenn die in „realtime“ erfolgende Bildauswer­tung der die Pass- und Referenzpunkte durchfahrenden Fahrzeuge An­haltspunkte für einen Geschwindigkeits- oder Abstandsverstoß liefert. Hierbei würden die bereits zuvor ermittelten Messwerte und diesbezügli­chen Bildaufzeichnungen mit den erst nunmehr aufgenommenen Bildern des Fahrers und des Kennzeichens des Fahrzeugs zur weiteren Beweisfüh­rung gespeichert. Auf während der Abstands- und Geschwindigkeitsmes­sung verdachtsunabhängig aufgenommenen Bildern der Videokamera (Brückenkamera) sei aufgrund der geringen Schärfe weder das Autokenn­zeichen noch der Fahrer zu erkennen, auch nicht durch technische Nach­bearbeitung. Das der Identifikation dienende Beweisfoto werde von einer sog. Leitplankenkamera ausgelöst, welche erst nach der Feststellung eines Anfangsverdachts aus eine Ordnungswidrigkeit von einem, hierzu beson­ders geschulten Polizeibeamten ausgelöst werde, der hierzu eine konkret­individuelle Ermittlungsentscheidung getroffen habe. Dieses Foto sei an­ders als in dem vom BVerfG zu entscheidenden Fall von der Eingriffsbefug­nis des § 100 h StPO gedeckt.

Um ein solches Verfahren handelt es sich vorliegend nicht. Vielmehr wurde das Verfahren angewendet, das in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiede­nen Fall Verwendung fand. Das Softwaremodul 3.1 wurde erst am 16.10.2008 zugelassen; die Eichung des hier verwendeten Systems fand aber bereits am 02.04.2008 statt so dass auszuschließen ist, dass das neue Modul benutzt wurde.

Das Gericht hat hier nicht zu entscheiden, ob in dem dem Urteil des AG Schwein­furt zugrundeliegenden Aufzeichnungsverfahren durch die grobkörnige Brücken­kamera tatsächlich kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestim­mung zu erblicken ist. Das AG Schweinfurt meint, das Grundrecht sei nicht be­troffen, wenn durch die Aufnahme aufgrund seiner Auflösung Fahrzeugführer und Kennzeichen nicht zu erkennen seien. Vertretbar dürfte indes auch die gegentei­lige Auffassung sein, wonach ein Grundrechtseingriff bereits dann zu bejahen ist, wenn überhaupt ein privater Lebensvorgang erfasst wird, auch wenn er erst durch spätere Maßnahmen, hier das nachfolgende Leitplankenfoto, problemlos aus der Anonymität herausgelöst werden kann. Denn auch auf dem Brückenfoto sind Details erkennbar, wie Fahrzeugtyp, Anzahl der Insassen auf den vorderen Sitzen und eben das beanstandete Fahrverhalten, die Rückschluss auf ein per­sönliches Verhalten zulassen, wobei letztere Daten gerade dazu dienen sollen, den Ordnungswidrigkeitsvorwurf zu belegen.

Maßgebend ist für den hier zu entscheidenden Fall allein, dass auch das AG Schweinfurt sorgsam differenziert, ob der Grundrechtseingriff verdachtsunab­hängig oder aufgrund eines konkreten Anfangsverdachtes erfolgte. Dem ent­nimmt das Gericht jedenfalls, dass auch das AG Schweinfurt für verdachtsunab­hängig gewonnene Beweismittel keine den Grundrechtseingriff rechtfertigende Norm erblickt.

Nicht zu folgen vermag das Gericht indes der Entscheidung des AG Grimma Zweigstelle Wurzen vom 31.08.2009, Az. 003 Owi 153 Js 30059/09, welches für keine Art der Bildaufzeichnung im öffentlichen Raum eine ausreichende Ermäch­tigungsgrundlage sieht. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist, wie mit Ausnahme des Art. 1 Abs. 1 GG praktisch alle Grundrechte, nach der Rechtsprechung des BVerfG einer Einschränkung zumindest im Sinne der prakti­schen Konkordanz zugänglich, so etwa, wenn überwiegende Allgemeininteressen eine Eingriff zu Lasten des Einzelnen rechtfertigen (BVerfG v. 11.08.2009, 2 BvR 941/O8, Rz. 15 f.; BVerfG v. 11.08.2009, 2 BvR 941/08, Rz. 17; BVerfGE 65, 1, 43; BVerfGE 120, 378, 401 ff.). Für verdachtsabhängige Überwachungsmaßnah­men liegen wie dargestellt den Grundrechtseingriff ausreichend legitimierende, Art. 20 GG entsprechende Ermächtigungsgrundlagen vor.

Für verdachtsunabhängige Kontrollen wie hier ist aber weder nach Bundesrecht noch Sächsischem Landesrecht eine geeignete Ermächtigungsgrundlage ersicht­lich.

Der Grundrechtseingriff durch die Fertigung des Beweisfotos im vorliegenden Fall war mithin nicht von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt und es sind auch keine anderen Gründe (von Verfassungsrang) ersichtlich, die ihn hätten rechtfer­tigen können.

(2) Beweisverwertungsverbot
Das unter Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewonnene Beweisfoto darf nicht zum Nachteil des Betroffenen verwertet wer­den.

Nach den allgemeinen strafprozessualen Grundsätzen, die über § 46 OWiG auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren gelten, kann aus einem Beweiserhe­bungs- auch ein Beweisverwertungsverbot folgen. Dies ist, wenn im Einzelfall nicht ausdrücklich geregelt, im Einzelfall zu entscheiden.

Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 11.08.2009, 2 BvR 941/08, die Mög­lichkeit eines Beweisverwertungsverbotes für Beweismittel der vorliegenden Art ausdrücklich in den Raum gestellt, ohne hierüber abschließend zu entscheiden.

Das Gericht stimmt mit dem AG Grimma, Urteil vom 11.08.2009, 003 Owi 153 Js 30059/09, überein, wonach für unter Verstoß gegen das Recht auf informationel­le Selbstbestimmung mangels ausreichender Gesetzesgrundlage gewonnene Be­weismittel ein Beweisverwertungsverbot zu gelten hat.

Das AG Grimma stützt sich in seiner Entscheidung auf die Rechtsprechung des BVerfG und des OLG Dresden zur Blutentnahme zur BAK-Feststellung ohne Be­achtung des Richtervorbehaltes und meint, dass bei hieraus folgender Unver­wertbarkeit erst recht Unverwertbarkeit bei fehlender Gesetzesgrundlage beste­he.

Das Gericht folgt dem im Ergebnis. Der Verfassungsverstoß bei der Verkehrs­überwachung würde relativiert, wenn das verfassungswidrig gewonnene Beweis­mittel als zumeist einziges Beweismittel zur Überführung des Täters zu einer Verurteilung führen würde. Auch wenn der vorgeworfene Verkehrsverstoß erheb­lich und das dadurch ausgelöste Gefährdungspotential für Leib und Leben enorm ist, ohne sich jedoch seinerseits bereits konkretisiert zu haben, so dass diese Rechtsgüter von Verfassungsrang bereits betroffen wären, dürfen rechtstaatliche Grundsätze bei der Verkehrsüberwachung nicht außer Acht bleiben. Dies gilt ge­rade, weil es sich um ein massenweise durchgeführtes Verfahren handelt.

Es ist Sache des parlamentarischen Gesetzgebers, eine geeignete Ermächti­gungsgrundlage zu erlassen, wenn er die bisher bekannten Verkehrüberwa­chungsmaßnahmen gerichtsfest machen möchte oder es muss die Art und Weise der bisherigen zunehmend Personalkosten sparenden Maßnahmen überdacht werden.

Bevor dies geschieht, dürfen Beweismittel, die wie hier unter Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewonnen wurden, nicht zum Nach­teil des Betroffenen verwertet werden.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO iVm 46 OWiG.

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