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HWS-Distorsion durch Verkehrsunfall mit niedriger kollisionsbedingter Geschwindigkeitsänderung

Schmerzensgeldstreit nach Verkehrsunfall: Gutachten widerlegt behauptete Verletzungen

In Fällen von Verkehrsunfällen steht oft die Frage im Raum, inwieweit Verletzungen und daraus resultierende Schmerzen als direkte Folgen des Unfalls angesehen werden können. Besonders bei Kollisionen mit geringer Geschwindigkeitsänderung, wie sie häufig in städtischen Verkehrsbereichen vorkommen, ist die Bewertung der Unfallfolgen eine Herausforderung. Hierbei spielen medizinische Gutachten eine entscheidende Rolle, um die Art und Schwere der Verletzungen zu beurteilen.

Ein zentraler Aspekt in solchen Rechtsstreitigkeiten ist die Ermittlung, ob und in welchem Ausmaß ein Schmerzensgeldanspruch gerechtfertigt ist. Dies berührt die grundlegende Frage, wie Verkehrsunfälle und ihre Folgen im rechtlichen Kontext behandelt werden, insbesondere wenn es um Verletzungen wie HWS-Distorsionen geht. Solche Fälle erfordern eine sorgfältige Prüfung von Sachverständigengutachten und eine abgewogene juristische Bewertung, um festzustellen, ob die behaupteten körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen tatsächlich auf den Verkehrsunfall zurückzuführen sind.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 7 U 156/22   >>>

Das Wichtigste in Kürze


Das Landgericht hat die Forderung nach zusätzlichem Schmerzensgeld für Verletzungen, die angeblich aus einem Verkehrsunfall resultierten, abgelehnt, da der Kläger nicht überzeugend nachweisen konnte, dass die Verletzungen unfallbedingt waren.

Zentrale Punkte aus dem Urteil:

  1. Unfallereignis: Der Verkehrsunfall, bei dem der Kläger und der Beklagte beteiligt waren, fand am 10.02.2016 statt. Die Haftung des Beklagten wurde aufgrund eines Vorfahrtverstoßes festgestellt.
  2. Geltend gemachte Verletzungen: Der Kläger behauptete, eine HWS-Distorsion, eine Thoraxprellung und eine Verletzung der linken Schulter (u.a. SLAP-II-Läsion) erlitten zu haben.
  3. Anspruch auf Schmerzensgeld: Der Kläger forderte über das bereits gezahlte Schmerzensgeld von 650,00 € hinaus weiteres Schmerzensgeld und Ersatz für einen Haushaltsführungsschaden.
  4. Sachverständigengutachten: Das Landgericht stützte sich auf ein interdisziplinäres Sachverständigengutachten, um die Unfallfolgen zu bewerten.
  5. Urteil des Landgerichts: Das Gericht lehnte die Forderung nach weiterem Schmerzensgeld ab, da der Kläger die behaupteten Verletzungen nicht ausreichend nachweisen konnte.
  6. Beweisführung: Der Kläger konnte nicht überzeugend darlegen, dass die Verletzungen durch den Unfall verursacht wurden. Besonders bei der Bewertung der HWS-Distorsion und der Thoraxprellung mangelte es an stichhaltigen Beweisen.
  7. Kritik am Gutachten: Die Einwände des Klägers gegen das Sachverständigengutachten wurden als nicht durchgreifend erachtet.
  8. Entscheidung des Berufungsgerichts: Das Oberlandesgericht folgte der Auffassung des Landgerichts und wies die Berufung des Klägers zurück, da keine ausreichenden Beweise für die behaupteten Verletzungen vorlagen.

Der Streit um Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall

Wer trägt die Beweislast für das Vorliegen unfallkausaler Verletzungen?
(Symbolfoto: Andrey_Popov /Shutterstock.com)

Am 10. Februar 2016 kam es im Kreuzungsbereich der D.-Chaussee und der H.-Straße in H. zu einem Verkehrsunfall, bei dem der Kläger mit seinem VW T4 und der Beklagte zu 1) mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten VW Passat beteiligt waren. Der Unfall ereignete sich aufgrund eines Vorfahrtverstoßes des Beklagten zu 1). Nach dem Unfall behauptete der Kläger, er habe eine HWS-Distorsion, eine Thoraxprellung und eine Verletzung der linken Schulter, darunter eine SLAP-II-Läsion, erlitten. Für diese Verletzungen verlangte der Kläger weiteres Schmerzensgeld und Ersatz eines Haushaltsführungsschadens, über das bereits von der Beklagten zu 2) gezahlte Schmerzensgeld von 650,00 € hinaus.

Sachverständigengutachten als zentrale Beweismittel

Das Landgericht holte zur Klärung der Verletzungen ein interdisziplinäres Sachverständigengutachten ein. Der technische Gutachter Dipl.-Ing. S. untersuchte die Kollisionsgeschwindigkeit und die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung. Die ermittelten Werte deuteten auf eine Kollisionsgeschwindigkeit des VW T4 von etwa 25 km/h und des VW Passat von ca. 18 km/h hin. Der orthopädische Gutachter Dr. D. kam zu dem Schluss, dass eine Verletzung der Halswirbelsäule und der Schulter beim Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden konnte. Eine Thoraxprellung sei möglich, aber nicht ausreichend durch Befunde belegt.

Berufung und Urteil des Oberlandesgerichts

Der Kläger legte gegen das Urteil des Landgerichts Berufung ein, wobei er insbesondere auf das seiner Meinung nach unzureichende Sachverständigengutachten hinwies. Er betonte, dass die Kollision ungebremst mit ca. 50 km/h erfolgt sei und dass seine Verletzungen durch die Kollision verursacht wurden. Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein wies jedoch die Berufung zurück und bestätigte das Urteil des Landgerichts. Es stellte fest, dass der Kläger die behaupteten Verletzungen nicht ausreichend nachweisen konnte und dass das bereits gezahlte Schmerzensgeld angemessen sei. Die Kritik des Klägers am Sachverständigengutachten wurde als nicht stichhaltig angesehen.

Die Bedeutung des medizinischen Gutachtens in Verkehrsunfallfällen

Die Rolle des medizinischen Gutachtens in diesem Fall unterstreicht die Wichtigkeit objektiver medizinischer Bewertungen bei Verkehrsunfällen. Obwohl der Kläger verschiedene Verletzungen behauptete, konnte das Gericht, basierend auf dem medizinischen Gutachten, keine ausreichende Beweisgrundlage finden, die diese Behauptungen stützt. Dieser Fall zeigt auf, wie entscheidend medizinische Gutachten für die Beurteilung von Verletzungen nach Verkehrsunfällen sind und wie sie die Entscheidungsfindung in rechtlichen Auseinandersetzungen prägen können.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Wer trägt die Beweislast für das Vorliegen unfallkausaler Verletzungen?

In Deutschland trägt grundsätzlich der Anspruchsteller die Beweislast dafür, dass die geltend gemachten Verletzungen adäquate Folgen des Unfallereignisses sind. Der Kläger muss nach den strengen Anforderungen des Vollbeweises gemäß § 286 ZPO zur vollen Überzeugung des Gerichts den Nachweis führen, dass er bei dem Unfall eine Primärverletzung erlitten hat. Steht eine solche Primärverletzung fest, richtet sich die Frage, ob der Unfall über diese Primärverletzung hinaus auch für weitere Beschwerden des Klägers ursächlich ist, nach dem Beweismaß des § 287 ZPO, wonach je nach Lage des Einzelfalles eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung genügt.

Es ist wichtig, dass der Geschädigte bei körperlichen Beschwerden nach einem Unfall sofort einen Arzt aufsucht, um die Verletzungen attestieren zu lassen. Ohne Attest ist später kaum noch der Beweis für die Körperverletzung und deren Umfang zu erbringen.


Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 156/22 – Beschluss vom 01.02.2023

I. Der Kläger wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.

III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 10.000,00 € festzusetzen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um – weiteres – Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall, der sich 10.02.2016 gegen 9:00 Uhr im Kreuzungsbereich der D.- Chaussee und der H.-straße in H. ereignete und an dem der Kläger mit seinem PKW VW T4 und der Beklagte zu 1) mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW VW Passat beteiligt waren. Die alleinige Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist aufgrund eines Vorfahrtverstoßes des Beklagten zu 1) unstreitig. Streitig ist, ob und inwieweit der Kläger bei dem Unfall verletzt wurde. Der Kläger war nach dem Unfall ca. neun Monate lang krankgeschrieben. Die Beklagte zu 2) zahlte dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 650,00 €.

Der Kläger behauptet, er habe infolge des Unfalls folgende Verletzungen erlitten: Eine HWS-Distorsion, eine Thoraxprellung sowie eine Verletzung der linken Schulter (u.a. SLAP-II-Läsion). Mit seiner Klage vom 19.01.2018 hat der Kläger ein weiteres Schmerzensgeld sowie Ersatz eines Haushaltsführungsschadens geltend gemacht.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt:

1. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger ein in das Ermessen des Gerichts (§ 287 ZPO) gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen.

2. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Betrag als Haushaltsführungsschaden zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten stellen die behaupteten Verletzungen und insbesondere länger andauernde Beschwerden in Abrede. Sie sind der Auffassung, etwaige unfallbedingte Beeinträchtigungen seien durch das gezahlte Schmerzensgeld hinreichend kompensiert.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat den Kläger und den Beklagten zu 1) persönlich angehört und Beweis erhoben durch Einholung eines interdisziplinären Sachverständigengutachtens sowie durch Vernehmung des Zeugen Dr. N. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschriften vom 12.10.2018 (Bl. 48 ff. d. A.) und vom 27.06.2022 (Bl. 266 ff. d. A.) sowie auf das Gutachten vom 18.09.2020 (Sonderband) verwiesen.

Mit dem angefochtenen Urteil vom 12.08.2022 hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe unfallkausale Verletzungen, die ein über die geleisteten 650,00 € hinausgehendes Schmerzensgeld rechtfertigten, nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen können; er sei beweisfällig geblieben. Dies ergebe sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten. Nach dessen Ergebnis habe der Kläger bei dem Unfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine HWS-Distorsion und keine Schultergelenksbeschwerden und mit nicht ausreichender Wahrscheinlichkeit eine Thoraxprellung erlitten. Bei einer anzunehmenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung zwischen 14,2 und 16,4 km/h sei allenfalls im oberen Grenzbereich eine Verletzungsmöglichkeit (Thoraxprellung) gegeben, der tatsächliche Eintritt einer Verletzung lasse sich jedoch aus den Befunden nicht herleiten. Die Arbeits- und Haushaltsführungsfähigkeit des Klägers seien deshalb durch den Unfall nicht beeinträchtigt worden.

Das technische Gutachten sei entgegen der Kritik des Klägers zugrunde zu legen. Der Sachverständige habe im Rahmen der Rekonstruktion zwar nicht identische Fahrzeuge herangezogen, er jedoch habe jedoch dargelegt, dass dies üblich sei und die Ergebnisse bei Einhaltung technisch-wissenschaftlicher Standards übertragbar seien. Zudem habe er eine Computersimulation unter Verwendung der Daten der Originalfahrzeuge durchgeführt.

Auch dem medizinischen Gutachten sei zu folgen. Dieser habe die ermittelten Belastungswerte zugrunde gelegt und gewürdigt; dabei habe er sich insbesondere auch mit den vorliegenden, divergierenden Befundberichten kritisch auseinandergesetzt.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Begehren (nur) auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes weiter. Dem Kläger stehe ein höheres Schmerzensgeld als das bereits gezahlte zu. Das Sachverständigengutachten sei nicht geeignet, dem Kläger weiteres Schmerzensgeld abzusprechen. Dem Gutachter hätten geeignete Anknüpfungspunkte – namentlich zur Unfallendstellung – gefehlt und ihm seien angeforderte Lichtbilder nicht zur Verfügung gestellt worden, was die Auswertung erschwert habe. Für die Rekonstruktion habe er andere Fahrzeugmodelle als die am Unfall beteiligten verwendet. Die Körpergröße (1,90 m) des Klägers und sein (Über-)Gewicht seien unberücksichtigt geblieben. Aufgrund des Gutachtens stehe jedenfalls fest, dass durch die Kollision eine Belastung des Brustkorbs und der Hüfte erfolgt sei. Unstreitig seien eine HWS-Distorsion, eine Thoraxprellung und eine Prellung der Schulter sowie Bewegungsschmerz in der Wirbelsäule diagnostiziert worden. Der Kläger habe unter erheblichen Beschwerden gelitten. Unstreitig sei auch eine SLAP-II-Läsion diagnostiziert worden, die operativ behandelt worden sei. Ferner habe der Kläger bei dem Unfall zwei Spitzen der vorderen Schneidezähne verloren.

Der Kläger verweist in seiner Berufungsbegründung erneut auf die Befunde der behandelnden Ärzte und den bereits erstinstanzlich dargelegten, langwierigen Heilungsverlauf. Er führt aus, dass er vor dem Unfall beschwerdefrei gewesen sei. Die Kollision sei ungebremst mit ca. 50 km/h erfolgt.

Der Kläger beantragt, die Beklagten gesamtschuldnerisch, unter Aufhebung des mit der Berufung angefochtenen Urteils des Landgerichts Itzehoe, zu verurteilen, an den Kläger ein der Höhe nach ins Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung auf Kosten des Klägers / Berufungsklägers zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil. Die klägerseits behaupteten Beeinträchtigungen seien mitnichten unstreitig; es fehlten objektivierbare Befunde. Das eingeholte Sachverständigengutachten sei nicht zu beanstanden. Die hiergegen eingewandten eigenen Berechnungen des Klägers beruhten auf Spekulationen.

Im Übrigen wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Dem Kläger steht gegen die Beklagten kein Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, § 253 Abs. 1 BGB, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG zu.

Gemäß § 513 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546) beruht oder nach § 529 zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Nach § 529 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Insbesondere sind die durch das Landgericht durchgeführte Beweisaufnahme und seine auf dieser Grundlage erfolgte Beweiswürdigung nicht zu beanstanden.

Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nur insoweit überprüfbar, als konkrete Anhaltspunkte erkennbar sind, insbesondere mit der Berufung schlüssig aufgezeigt werden, die Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen dergestalt begründen, dass sich eine erneute Beweisaufnahme zur Ausräumung dieser Zweifel gebietet. Dabei beschränkt sich die Prüfung des Berufungsgerichts nicht darauf, ob das Gericht in erster Instanz den Prozessstoff und die Beweisergebnisse umfassend und widerspruchsfrei geprüft hat und seine Würdigung vollständig und rechtlich möglich ist, ohne gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze zu verstoßen. Das Berufungsgericht hat den vorgelegten Prozessstoff auf der Grundlage der nach § 529 ZPO berücksichtigungsfähigen Tatsachen vielmehr auch dahin zu überprüfen, ob die Beweiswürdigung des Landgerichts bei Berücksichtigung aller Gesichtspunkte sachlich überzeugend ist (OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Juni 2018 – 1 U 1288/17 -, Rn. 74, f.: BGH, Urteil vom 12. April 2011 – VI ZR 300/09 -, Rn. 22 m.w.N; BGH, Beschluss vom 19. November 2014 – IV ZR 317/13).

Das Landgericht hat nach Einholung eines interdisziplinären Sachverständigengutachtens die Anspruchsvoraussetzungen mit zutreffenden Erwägungen verneint.

Der technische Gutachter Dipl.-Ing. S. hat durch Analyse der vorhandenen Lichtbilder und von vergleichenden Unfallversuchen sowie durch Simulationsberechnungen die Anstoßkonfiguration und die aufgetretenen EES-Werte (EES = Energy Equivalent Speed) nachvollziehbar ermittelt. Dabei ließen sich die Werte aus der Simulation gut mit denen aus den Unfallversuchen in Einklang bringen. Für die Obergrenze der so ermittelten EES-Werte ergebe sich eine Kollisionsgeschwindigkeit des VW T 4 von rund 25 km/h und des VW Passat von ca. 18 km/h. Die maßgebliche kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des VW T4 habe danach an der Obergrenze rund 16,3 km/h in Längsrichtung und etwa 4,3 km/h in Querrichtung betragen, was eine mittlere Verzögerung in Längsrichtung von maximal 4,1 g und einer mittleren Beschleunigung in Querrichtung von maximal 1,1 g ergebe.

Der orthopädische Gutachter Dr. D. hat zunächst ausgeführt, dass verletzungsfördernde Faktoren in der Person des Klägers nicht bestanden haben. Dabei hat der Gutachter sich mit der vorhandenen Bildgebung, früheren Verletzungen und bestehenden degenerativen Veränderungen auseinandergesetzt und auch die Konstitution des Klägers (187 cm, 108 kg) berücksichtigt. Unter Zugrundelegung der vom technischen Gutachter ermittelten maximalen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung in Fahrzeuglängsrichtung sei eine Verletzungsmöglichkeit für die Halswirbelsäule mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu verneinen. Das gleiche gelte für die obere Grenze der Beschleunigung in Fahrzeugquerrichtung sowie für die Kombination dieser beiden biomechanischen Belastungen. Eine Verletzung des Brustkorbs könne bei Zugrundelegung der unteren Grenze der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verneint werden; zumal eine Gurtprellmarke objektiv nicht befundet und vom Kläger im Rahmen der Untersuchung durch den Gutachter auch verneint worden sei. Gehe man von der oberen Grenze der kolliionsbedingten Geschwindigkeitsänderung aus, wäre eine Verletzungsmöglichkeit zwar grundsätzlich gegeben. Allerdings sei im erstbehandelnden Krankenhaus kein Thoraxkompressionsschmerz beschrieben worden, was gegen eine Thoraxprellung spreche. Soweit die Hausärztin eine Thoraxprellung diagnostiziert habe, fehle es an einem entsprechenden Befund, der diese Diagnose begründen würde. Deshalb sei letztlich nicht mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit von einer Verletzung des Thorax im Sinne einer Thoraxprellung auszugehen. Schließlich sei auch eine Verletzungsmöglichkeit der Schulter (Rotatorenmanschette) unter Berücksichtigung des Unfallmechanismus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Von einer Stauchungsbelastung sei nach den Angaben des Klägers (Hände am Lenkrad und Ellenbogen etwa zu 45° gebeugt) nicht auszugehen; die einwirkende biomechanische Belastung werde hierdurch deutlich reduziert und es sei nicht von einer nennenswerten biomechanischen Belastung auf das linke Schultergelenk auszugehen. Eine Rotatorenmanschettenruptur könne selten auch traumabedingt auftreten, in der Regel entwickele sie sich jedoch spontan im Rahmen alltäglicher Belastungen, da sie einem ausgeprägten altersbedingten Verschleiß bei primär ungünstigen Perfusionsverhältnissen unterliege.

Beide Gutachter haben ihre Ausführungen in einer mündlichen Verhandlung erläutert und vertieft, ohne dass sich hieraus wesentlich abweichende Erkenntnisse ergeben haben. Der als Zeuge vernommene behandelnde Arzt Dr. N. hat im Wesentlichen bestätigt, dass die Schulterverletzung altersbedingt typischerweise auch ohne Unfall auftrete; man sehe dies bei über 50-Jährigen „sehr häufig auch ohne konkreten Anlass“.

Der Senat kann die Beweiswürdigung des Landgerichts auf dieser Tatsachengrundlage gut nachvollziehen und schließt sich ihr an. Der Kläger hat danach nicht den Beweis geführt, dass er infolge des streitgegenständlichen Unfalls vom 10.02.2016 die dargelegten erheblichen Verletzungen und längerfristigen Beschwerden erlitten hat. Die tatsächlich erlittenen Schmerzen und Beeinträchtigungen wurden durch das gezahlte Schmerzensgeld in Höhe von 650,00 € jedenfalls angemessen ausgeglichen.

Die Einwendungen des Klägers gegen das interdisziplinäre Sachverständigengutachten greifen nicht durch. Soweit der technische Gutachter das Fehlen der polizeilichen Ermittlungsakte beanstandet hat, ist dies unerheblich, weil er sein Gutachten auf Grundlage der vorhandenen Lichtbilder und weiteren Informationen erstatten konnte. Dass er auf Unfallversuche mit anderen Fahrzeugmodellen zurückgegriffen hat, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Er hat insbesondere in der mündlichen Verhandlung vom 27.06.2022 erläutert, inwiefern sich hieraus dennoch brauchbare Schlüsse ziehen lassen. Zudem hat er die so ermittelten EES-Werte durch Simulationsrechnungen verifiziert. Die Feststellungen des technischen Gutachters stehen der Angabe des Klägers zu einer Kollisionsgeschwindigkeit von 45 – 50 km/h entgegen. Für die Frage der individuellen Belastbarkeit und der konkreten körperlichen Beeinträchtigungen war nicht der technische, sondern der medizinische Gutachter zuständig. Dieser hat auf Grundlage der Berechnungen des technischen Gutachters und unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde unfallkausale Verletzungen nicht mit ausreichender Sicherheit nachvollziehen können. Er hat dabei auch ausgeführt, dass die Diagnose der behandelnden Ärztin Dr. S. nicht durch entsprechende Befunde gestützt wird. Die Schulterverletzung kann eher eine andere, verschleißbedingte Ursache haben und nach dem Unfall spontan aufgetreten sein.

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