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Verkehrsunfall – unzulässiges Überholen und Rechtsabbiegen in ein Grundstück

OLG Schleswig-Holstein: Haftungsverteilung bei Überhol- und Abbiegeunfall neu bewertet

Das Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein (Az.: 7 U 94/23) ändert das Ersturteil zugunsten der Beklagten, indem es eine Haftungsverteilung von 40 % zu Lasten der Beklagten und 60 % zu Lasten des Klägers festlegt. Die Entscheidung basiert auf einer detaillierten Analyse der Verkehrsverstöße beider Parteien beim Überholen und Abbiegen. Das Gericht betont die Bedeutung der Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr und die Notwendigkeit einer umfassenden Bewertung aller Umstände des Einzelfalls.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 7 U 94/23 >>>

✔ Das Wichtigste in Kürze

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  • Die Haftungsverteilung wurde nach einer eingehenden Prüfung der Umstände auf 40 % für die Beklagte und 60 % für den Kläger festgelegt.
  • Das Gericht stellte Verstöße gegen mehrere Verkehrsregeln fest, einschließlich § 9 Abs. 5 StVO und § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO, die von beiden Parteien begangen wurden.
  • Die Entscheidung unterstreicht die Wichtigkeit der Rückschaupflicht und der korrekten Anwendung des Blinkers beim Überholen.
  • Das Verhalten des Klägers beim Überholen wurde als rücksichtslos und gefährlich eingestuft.
  • Die Beweislast und die Bedeutung einer umfassenden Beweisaufnahme für die Feststellung der Haftungsverteilung wurden hervorgehoben.
  • Die Entscheidung verdeutlicht, dass unzulässiges Überholen bei unklarer Verkehrslage zu einer höheren Haftungsquote führen kann.
  • Die Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile ist für die Haftungsverteilung entscheidend.
  • Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wurde bestätigt, und eine Revision wurde nicht zugelassen.

Haftungsverteilung bei Überholunfällen

Unfall: Überholen & Rechtsabbiegen
(Symbolfoto: William A. Morgan /Shutterstock.com)

Verkehrsunfälle, die durch unzulässiges Überholen und gleichzeitiges Rechtsabbiegen in ein Grundstück entstehen, werfen komplexe Haftungsfragen auf. Die Rechtsprechung betont die Notwendigkeit einer sorgfältigen Prüfung der Umstände des Einzelfalls, um eine gerechte Haftungsverteilung vorzunehmen. Dabei spielen insbesondere die Einhaltung der Sorgfaltspflichten der Beteiligten und die unklare Verkehrslage eine entscheidende Rolle. Auch die Sanktionen bei unzulässigem Überholen sind zu beachten. Diese Informationen verdeutlichen die Bedeutung einer genauen Betrachtung der Verkehrssituation und der individuellen Handlungen der Fahrzeugführer im Kontext der geltenden Verkehrsregeln und Haftungsgrundsätze.

Wenn Sie Fragen zu einem ähnlichen Fall haben, wo es um Haftungsverteilung bei Überholunfällen geht, zögern Sie nicht und fordern noch heute unsere unverbindliche Ersteinschätzung an.

Bei einem Verkehrsunfall in Seedorf am 15. Mai 2020, der durch unzulässiges Überholen und Rechtsabbiegen in ein Grundstück gekennzeichnet war, kam es zu einer rechtlichen Auseinandersetzung, die bis zum Oberlandesgericht Schleswig-Holstein geführt hat. Im Zentrum des Falls stand die Kollision zwischen einem PKW Audi, gefahren vom Kläger, und einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten VW, gesteuert vom Versicherungsnehmer der Beklagten, der später verstarb. Der Unfall ereignete sich unter komplexen Umständen, die sowohl Fragen der Verkehrsregelkonformität als auch der Haftungsverteilung aufwarfen.

Rechtsstreit um Schadensersatz und Haftungsfragen

Die Hauptfrage, die zur rechtlichen Auseinandersetzung führte, drehte sich um den Anspruch auf Schadensersatz und die entsprechende Haftungsquote. Der Kläger behauptete, während des Überholens sei er schneller gewesen und habe ausreichend Seitenabstand gehalten. Er machte geltend, die Kollision sei allein durch den Linksschwenk des Beklagtenfahrzeugs verursacht worden. Demgegenüber stand die Darstellung der Beklagten, die behauptete, der Kläger sei mit minimalem Abstand und hoher Geschwindigkeit am Beklagtenfahrzeug vorbeigefahren.

Analyse der Verkehrsverstöße und Haftungsverteilung

Die juristische Herausforderung des Falls lag in der Ermittlung der genauen Umstände des Unfalls und der daraus resultierenden Verkehrsverstöße. Das Landgericht Kiel hatte zunächst eine Haftungsquote zugunsten des Klägers festgelegt, die jedoch vom Oberlandesgericht nach Berufung der Beklagten modifiziert wurde. Die Berufung führte zu einer Neubewertung der Haftungsverteilung, wobei die Verstöße gegen Verkehrsregeln wie das Rechtseinordnen vor dem Abbiegen, die doppelte Rückschaupflicht und das Überholen bei unklarer Verkehrslage berücksichtigt wurden.

Urteil und seine Begründung

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein entschied, dass beide Parteien zu einem gewissen Grad für den Unfall verantwortlich waren, und legte eine Haftungsquote von 40 % zu Lasten der Beklagten und 60 % zu Lasten des Klägers fest. Diese Entscheidung basierte auf einer detaillierten Analyse der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensanteile, wobei insbesondere das rücksichtslose und gefährliche Überholmanöver des Klägers hervorgehoben wurde. Das Gericht wies darauf hin, dass trotz des ordnungsgemäßen Blinkens und der Geschwindigkeitsreduzierung durch den Versicherungsnehmer der Beklagten, dessen Einordnen nach links vor dem Abbiegen und der darauffolgende Linksschwenk eine konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer darstellten.

Schlussfolgerungen aus dem Urteil

Das Urteil verdeutlicht die Bedeutung der Einhaltung von Verkehrsregeln und der sorgfältigen Bewertung aller Umstände bei der Festlegung der Haftungsverteilung nach einem Verkehrsunfall. Es betont außerdem, dass die Verantwortung der Fahrzeugführer im Straßenverkehr nicht nur durch ihre eigenen Handlungen, sondern auch durch die Reaktionen auf das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer bestimmt wird.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein unterstreicht, dass bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen eine differenzierte Betrachtung der Verursachungsbeiträge unerlässlich ist. Sie zeigt auf, dass sowohl das Abbiegeverhalten als auch das Überholmanöver entscheidend für die Haftungsverteilung sind.

✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt

Welche Rolle spielt die korrekte Signalgebung beim Abbiegen im Straßenverkehr?

Die korrekte Signalgebung beim Abbiegen im Straßenverkehr spielt eine entscheidende Rolle für die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer. Sie dient der klaren Kommunikation der Fahrabsichten zwischen den Fahrzeugführern sowie zwischen Fahrzeugführern und Fußgängern. Durch eindeutige Signale können Missverständnisse und damit potenzielle Unfälle vermieden werden.

Beim Abbiegen müssen Fahrzeugführer rechtzeitig und deutlich anzeigen, in welche Richtung sie abbiegen wollen. Dies geschieht in der Regel durch das Setzen des Blinkers. Die korrekte Anwendung des Blinkers signalisiert anderen Verkehrsteilnehmern die Absicht, die Fahrtrichtung zu ändern, und ermöglicht es ihnen, entsprechend zu reagieren. Dies ist besonders an Kreuzungen, Einmündungen und beim Spurwechsel von Bedeutung.

Neben der Vermeidung von Unfällen trägt die korrekte Signalgebung auch zur Verbesserung des Verkehrsflusses bei. Wenn alle Verkehrsteilnehmer ihre Absichten klar kommunizieren, können Verzögerungen und Staus reduziert werden. Dies führt zu einem effizienteren und flüssigeren Verkehr.

Die Bedeutung der korrekten Signalgebung wird auch durch verschiedene Studien und Richtlinien unterstrichen. So zeigen Forschungsergebnisse, dass eine klare Signalisierung des Fußgängerverkehrs beim Abbiegen dazu beitragen kann, dass wartepflichtige Verkehrsteilnehmer besser erkennen, dass Fußgänger noch den Überweg passieren dürfen. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Signalgebung nicht nur für die Kommunikation zwischen Fahrzeugen, sondern auch für die Sicherheit von Fußgängern.

Zusammenfassend ist die korrekte Signalgebung beim Abbiegen ein wesentlicher Bestandteil der Verkehrssicherheit und des reibungslosen Verkehrsflusses. Sie ermöglicht eine klare Kommunikation der Fahrabsichten, reduziert das Risiko von Unfällen und trägt zu einem effizienteren Verkehr bei.

Inwiefern beeinflusst ein unzulässiges Überholmanöver die Schadensregulierung?

Ein unzulässiges Überholmanöver kann die Schadensregulierung nach einem Verkehrsunfall maßgeblich beeinflussen. Bei einem solchen Manöver handelt es sich um einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO), der die Haftungsverteilung im Falle eines Unfalls beeinflussen kann.

Die Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall richtet sich grundsätzlich nach dem Grad des jeweiligen Verschuldens der beteiligten Verkehrsteilnehmer. Wenn ein Fahrzeugführer beim Überholen gegen Verkehrsvorschriften verstößt, etwa indem er bei unklarer Verkehrslage oder trotz Überholverbots überholt, kann ihm eine höhere Schuld am Unfall zugesprochen werden.

Das bedeutet, dass im Falle eines Unfalls während eines unzulässigen Überholmanövers der überholende Fahrer mit einer höheren Haftungsquote rechnen muss. Dies kann sich in einer geringeren Schadensersatzleistung der Versicherung des überholenden Fahrers niederschlagen, da die Versicherung nur den Teil des Schadens übernimmt, der der Haftungsquote des Versicherten entspricht.

Zudem können bei einem unzulässigen Überholmanöver auch strafrechtliche Konsequenzen wie Bußgelder, Punkte in Flensburg oder sogar ein Fahrverbot drohen. Diese Sanktionen können zusätzlich zur zivilrechtlichen Haftung kommen und die finanziellen und rechtlichen Folgen für den überholenden Fahrer verschärfen.

In der Schadensregulierung wird also geprüft, inwieweit das unzulässige Überholmanöver ursächlich für den Unfall war und wie sich dies auf die Haftungsverteilung auswirkt. Die Versicherungen der beteiligten Parteien werden dann auf Basis dieser Haftungsverteilung den Schaden regulieren.

Was sind die Konsequenzen für die Schadensersatzansprüche, wenn Vorschäden am Fahrzeug nicht gemeldet werden?

Die Nichtmeldung von Vorschäden an einem Fahrzeug kann erhebliche Konsequenzen für die Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall haben. Werden Vorschäden verschwiegen, besteht das Risiko, dass der Schadensersatzanspruch ganz oder teilweise verloren geht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Schäden aus einem früheren Unfall stammen und mit dem aktuellen Unfall in Verbindung gebracht werden sollen, ohne dass eine eindeutige Zuordnung möglich ist.

Wenn ein Fahrzeug bereits vor einem Unfall beschädigt war und diese Vorschäden nicht klar dokumentiert und dargelegt werden, kann es schwierig sein, zu beweisen, dass der aktuelle Schaden nicht mit dem Vorschaden zusammenhängt. In solchen Fällen kann die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers die Regulierung des Schadens verweigern.

Ein Sachverständigengutachten spielt eine entscheidende Rolle bei der Feststellung, ob ein Schaden neu ist oder bereits vor dem Unfall bestand. Wenn Vorschaden und Neuschaden sich überlappen, liegt die Beweislast beim Anspruchsteller, der nachweisen muss, dass der geltend gemachte Schaden auf das aktuelle Unfallereignis zurückzuführen ist.

Zudem kann ein nicht gemeldeter Vorschaden auch die Höhe der Schadensersatzansprüche beeinflussen. Wenn beispielsweise ein Teil des Fahrzeugs bereits vor dem Unfall erneuerungsbedürftig war, kann argumentiert werden, dass durch den neuen Unfall keine weitere Wertminderung eingetreten ist, was die Höhe des Schadensersatzes reduzieren würde.

Insgesamt ist es also von großer Bedeutung, Vorschäden korrekt zu melden und zu dokumentieren, um den vollen Umfang der Schadensersatzansprüche geltend machen zu können. Andernfalls riskieren Geschädigte, dass ihre Ansprüche gekürzt werden oder sogar ganz entfallen.


Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 94/23 – Urteil vom 06.02.2024

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 09.06.2023, Az. 2 O 61/20, abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.510,19 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.06.2020 sowie weitere 334,75 € auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.10.2020 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden weiteren Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 15.05.2020 in Seedorf nach einer Haftungsquote von 40 % zu ersetzen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits im ersten Rechtszug haben der Kläger 69 % und die Beklagte – ggf. als Gesamtschuldner neben den Erben des Hans Sommer – 31 % zu tragen. Von den Kosten des Rechtsstreits im zweiten Rechtszug haben der Kläger 38 % und die Beklagte 62 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 15.05.2020 in S. Der Kläger befuhr mit seinem PKW Audi X (amtliches Kennzeichen X) die X-Straße in Richtung S. Vor ihm fuhr der Versicherungsnehmer der Beklagten, der vormalige Beklagte zu 2), der am X verstorben ist, mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten VW (amtliches Kennzeichen X, nachfolgend „Beklagtenfahrzeug“). Der Versicherungsnehmer der Beklagten beabsichtigte, nach rechts in sein Grundstück – Hausnummer X – abzubiegen. Er reduzierte seine Geschwindigkeit, blinkte nach rechts und lenkte sein Fahrzeug zunächst etwas nach links zur Fahrbahnmitte hin. Der Kläger setzte etwa zur gleichen Zeit zum Linksüberholen an. Der Abstand und die Geschwindigkeitsdifferenz dabei sind streitig. Als sich die beiden Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe befanden, vollzog der Versicherungsnehmer der Beklagten mit seinem Fahrzeug eine weitere Lenkbewegung nach links – einen sog. Linksschwenk – und es kam zur seitlichen Kollision der Fahrzeuge. Die Fahrbahn verfügt an der Unfallstelle nicht über eine Mittelmarkierung.

Der Kläger hat behauptet, er sei mit seinem Fahrzeug beim Überholen geringfügig schneller gefahren als das Beklagtenfahrzeug und habe ausreichend Seitenabstand gehalten. Die Kollision sei auf der Gegenfahrbahn erfolgt und allein auf den deutlichen Linksschwenk des Beklagtenfahrzeugs zurückzuführen.

Der Kläger hat Beschädigungen seines Fahrzeuges rechtsseitig am Kotflügel, am Außenspiegel, an der Felge vorne, an den Türen vorne und hinten und am Seitenteil hinten behauptet. Er hat zuletzt Netto-Reparaturkosten in Höhe von 6.155,99 € behauptet. Die Sachverständigenkosten beliefen sich auf 948,43 €.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 7.716,79 € zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 04.06.2020;

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger jeden weiteren Schaden, der aus dem Verkehrsunfallereignis vom 15.05.2020 in Seedorf folgt, auf Basis einer Haftungsquote von 100 % zu ersetzen;

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 864,66 € zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, der Kläger sei mit minimalem Abstand am Beklagtenfahrzeug „vorbeigeschossen“. Bei dem geringfügigen Linksschwenk habe es sich um einen üblichen Vorgang zum besseren Abbiegen in die Einfahrt gehandelt. Für den Kläger habe eine unklare Verkehrslage bestanden. Die Beklagte hat ferner Vorschäden am Klägerfahrzeug behauptet.

Der Kläger hat die Beklagte mit anwaltlichem Schreiben vom 25.05.2020 unter Fristsetzung bis zum 03.06.2020 erfolglos zur Zahlung aufgefordert.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen X, X und X sowie durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Dipl.-Ing. X. Es hat sodann der Klage auf Grundlage einer Haftungsquote der Beklagten von 60 % und unter Abzügen bei der Schadenshöhe teilweise stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i. V. m. § 115 VVG. Die Beklagte habe für die Folgen des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls nach einer Haftungsquote von 60 % einzustehen. Dies entspreche den jeweiligen Verursachungsbeiträgen der Beteiligten im Rahmen der nach § 17 StVG gebotenen Abwägung. Der Versicherungsnehmer der Beklagten habe gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 1 S. 2 (Rechtseinordnen), S. 4 (doppelte Rückschaupflicht) und Abs. 5 StVO (Ausschluss der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer) verstoßen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Versicherungsnehmer der Beklagten im Rahmen des Abbiegevorgangs nach rechts einen Linksschwenk über die gedachte Mittellinie bis auf die Gegenfahrbahn ausgeführt. Zudem habe er auch noch im Rückspiegel gesehen, dass das Klägerfahrzeug hinter ihm nach links ausgeschert sei, und hierauf nicht reagiert. Der Kläger habe demgegenüber gegen die Sorgfaltsanforderungen aus § 5 Abs. 4a StVO (Ankündigung des Überholens durch Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger) und § 1 Abs. 2 StVO (Grundregeln im Straßenverkehr) verstoßen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Kläger beim Einleiten des Überholens nicht geblinkt. Das Überholmanöver selbst sei zwar nicht unzulässig gewesen, allerdings habe der Kläger insgesamt eine erheblich rücksichtslose Fahrweise gezeigt. Dies ergebe sich insbesondere aus der glaubhaften Aussage des Zeugen X. Der Kläger könne deshalb 60 % der erforderlichen Reparaturkosten ersetzt verlangen, wobei nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens nicht alle geltend gemachten Schäden auf den streitgegenständlichen Unfall zurückzuführen seien. Unfallbedingt seien – abgrenzbare – Reparaturkosten von 5.307,04 € (netto) erforderlich. Hinzu kämen Gutachterkosten in Höhe von 948,43 € und eine Auslagenpauschale von 25,00 €. Hiervon habe die Beklagte 60 % zu ersetzen. Hinzu kämen vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten auf einen Gegenstandswert bis 5.000,00 € in Höhe von 540,50 €.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird auf die angefochtene Entscheidung nebst darin enthaltenen Verweisungen Bezug genommen.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren auf Abweisung der Klage weiterverfolgt. Die Würdigung des Landgerichts, ihr Versicherungsnehmer sei mit seinem Linksschwenk bis auf die Gegenfahrbahn geraten, sei fehlerhaft. Dies gelte auch für die Annahmen, ihr Versicherungsnehmer habe den Linksschwenk erst vollführt, nachdem er im Rückspiegel das Ausscheren des Klägerfahrzeugs nach links wahrgenommen habe, und er hätte dessen Überholabsicht deshalb erkennen und seinen Abbiegevorgang noch abbrechen können. Ein Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht sei nicht gegeben. Ursächlich für die Kollision sei auch nicht die „fortgesetzte Linksbewegung“ des Beklagtenfahrzeugs gewesen, sondern das zu schnelle und enge Überholmanöver des Klägers. Für den Kläger habe eine unklare Verkehrslage bestanden, so dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb das Landgericht keine Unzulässigkeit des Überholmanövers angenommen habe. Der bei unklarer Verkehrslage überholende Kläger sei nicht in den Schutzbereich des § 9 Abs. 5 StVO einbezogen. Ihn müsse deshalb eine höhere Haftungsquote treffen als die Beklagte. Das Landgericht habe auch fehlerhafte Schlüsse aus den festgestellten Vorschäden gezogen; die Klage hätte vielmehr abgewiesen werden müssen, nachdem der Kläger die Vorschäden zuvor verschwiegen habe.

Die Beklagte beantragt nunmehr: Das Urteil des Landgerichts Kiel vom 12.06.2023 – 2 O 61/20 – wird aufgehoben und die Klage wird abgewiesen.

Sie beantragt zudem, im Hinblick auf die Haftungsverteilung die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil. Eine unklare Verkehrslage lasse sich nicht begründen, weil im Gegenteil klar gewesen sei, dass das Beklagtenfahrzeug nach rechts in das Grundstück abbiegen würde.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat – durch seinen Einzelrichter – am 16.01.2024 eine mündliche Verhandlung durchgeführt.

II.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG auf Ersatz seines unfallbedingten Schadens nach einer Haftungsverteilung von 40 % zu 60 % zu seinen Lasten.

Gemäß § 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Vorliegend rechtfertigen die vom Landgericht in nicht zu beanstandender Art und Weise getroffenen Feststellungen ein anderes Ergebnis, nämlich eine abweichende Haftungsverteilung.

Dem Landgericht ist zunächst darin zu folgen, dass der Versicherungsnehmer der Beklagten gegen § 9 Abs. 5 StVO (Ausschluss der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer beim Abbiegen in ein Grundstück) und § 9 Abs. 1 S. 2 StVO (Pflicht zum Einordnen nach rechts) verstoßen hat. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts wird zunächst Bezug genommen. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts hat der Versicherungsnehmer der Beklagten seine Geschwindigkeit reduziert, den Fahrtrichtungsanzeiger rechts betätigt und sich mit seinem Fahrzeug nach links zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet. Unmittelbar vor dem beabsichtigten Abbiegen in sein Grundstück hat er sein Fahrzeug noch weiter nach links gelenkt und einen sog. Linksschwenk vollzogen, wobei es zur Kollision mit dem Klägerfahrzeug gekommen ist. Damit stehen die genannten Verkehrsverstöße fest. Bereits mit dem Einordnen nach links hat der Versicherungsnehmer der Beklagten gegen das Gebot verstoßen, sein Fahrzeug vor dem Rechtsabbiegen möglichst weit rechts einzuordnen. Und jedenfalls mit dem weiteren Linksschwenk hat er andere Verkehrsteilnehmer konkret gefährdet, wodurch es zum Unfall mit dem nachfolgenden Klägerfahrzeug gekommen ist, das bereits im Überholen begriffen war. Darauf, ob das Beklagtenfahrzeug beim Einordnen oder beim weiteren Linksschwenk die gedachte Mittellinie überfahren und zumindest teilweise die Gegenfahrbahn befahren hat, kommt es für den Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO nicht an. Ob die entsprechende Schlussfolgerung des Landgerichts tragfähig ist oder nicht, ist deshalb unerheblich und bedarf keiner weiteren Erörterung. Ob den Versicherungsnehmer der Beklagten darüber hinaus ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO (Pflicht zur doppelten Rückschau) trifft, ist ebenfalls nicht entscheidend. Er selbst hatte angegeben, das Klägerfahrzeug noch im Rückspiegel gesehen zu haben, als es hinter ihm nach links ausgeschert war. Die Beklagte argumentiert letztlich, dass eine geeignete Reaktion ihres Versicherungsnehmers aufgrund des engen zeitlich-räumlichen Zusammenhangs nicht mehr möglich gewesen sei. Dies erlaubt zwei mögliche Rückschlüsse: Entweder der Versicherungsnehmer der Beklagten hat erst so spät auf den rückwärtigen Verkehr geachtet, dass er sein Abbiegemanöver – einschließlich des bereits eingeleiteten Linksschwenks – nicht mehr hat abbrechen können, was einen Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO begründen würde. Oder er hat zwar seiner Rückschaupflicht genügt, jedoch ungeachtet dessen – d.h. in Ansehung des evtl. zum Überholen ansetzenden Klägerfahrzeugs – sein Abbiegemanöver einschließlich Linksschwenk fortgesetzt, was den Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO und insbesondere gegen § 9 Abs. 5 StVO umso gravierender erscheinen ließe. Für den Grad des der Beklagten zuzurechnenden Verschuldens ihres Versicherungsnehmers und das Ausmaß ihrer Mithaftung macht es keinen entscheidenden Unterschied, welche der Variante hier zutrifft.

Dem Landgericht ist weiter darin zu folgen, dass den Kläger ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4a StVO (Pflicht zur Ankündigung des Überholens durch Benutzung des Fahrtrichtungsanzeigers) sowie gegen § 1 Abs. 2 StVO (Grundregeln im Straßenverkehr, Gefährdungsverbot) trifft. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Kläger sein Überholmanöver nicht durch Blinken angekündigt und ist zudem rücksichtslos und gefährlich gefahren. Die diesbezüglichen Feststellungen und die entsprechende Würdigung des Landgerichts sind nicht zu beanstanden. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 34. Auflage 2022, § 286, Rn. 13). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme gemäß §§ 529, 531 ZPO nicht im reinen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt (Zöller/Heßler, a.a.O., § 529, Rn. 3). Solche konkreten Anhaltspunkte sind vorliegend allerdings nicht ersichtlich und werden mit der Berufung auch nicht vorgetragen. Der Senat schließt sich der Beweiswürdigung des Landgerichts ausdrücklich an. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen X fuhr der Kläger mit seinem Fahrzeug „sehr dicht“ auf das Beklagtenfahrzeug auf, um dann „extrem Gas“ zu geben und „wie wild“ an ihm „vorbeizuziehen“. Hinzu kommt, dass dabei der Abstand des Kläger- zum Beklagtenfahrzeugs nicht groß gewesen sein kann. Denn nach den Ermittlungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. X (Gutachten vom 24.03.2022, Bl. 234 ff. d. A., dort Anlage A 15 = Bl. 262 d. A.) war der Kollisionswinkel sehr klein, d.h. die Fahrzeuge fuhren – bei nach links eingeschlagenen Vorderrädern des Beklagtenfahrzeugs – annähernd parallel. Daraus lässt sich ableiten, dass der seitliche Abstand der Fahrzeuge schon vor dem Einleiten des (weiteren) Linksschwenks nicht groß gewesen sein kann, weil ansonsten bis zur Kollision ein größerer Winkel des Beklagtenfahrzeugs zum Klägerfahrzeug erreicht worden wäre.

Der Kläger hat ferner bei unklarer Verkehrslage überholt und damit auch gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen. Das Überholen war für ihn in der konkreten Situation unzulässig. Insoweit kann der abweichenden Einschätzung des Landgerichts nicht gefolgt werden. Eine unklare Verkehrslage i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO liegt dann vor, wenn nach allen Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht gerechnet werden darf. Dies ist z. B. auch dann der Fall, wenn ungewiss ist, wie sich der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer verhalten wird. Die Unklarheit kann auch auf einem unaufmerksamen, unsicheren, fehlerhaften oder verkehrswidrigen Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers beruhen. Maßgeblich sind die gesamten äußeren Umstände, die für einen aufmerksamen Kraftfahrer, der überholen will, erkennbar sind. Es kommt darauf an, wie sich die Verkehrssituation für den Überholenden dargestellt hat (vgl. z. B. OLG Saarbrücken, Urteil vom 07.01.20223, Az. 3 U 358/02, Juris Rn. 29). Die Voraussetzungen für eine unklare Verkehrslage lagen danach vorliegend für den Kläger vor. Dem Kläger war das Beklagtenfahrzeug nach eigenen Angaben schon ab der Ortseinfahrt durch seine langsame Fahrweise aufgefallen. Zudem soll der Versicherungsnehmer der Beklagten ein nicht vorfahrtberechtigtes Fahrzeug durchgelassen haben. Der Kläger habe deshalb besondere Vorsicht walten lassen und größeren Abstand gehalten. Der Kläger hat also erkannt, dass besondere Vorsicht angezeigt war. Im weiteren Verlauf wurde das Beklagtenfahrzeug unstreitig mit eingeschaltetem rechten Fahrtrichtungsanzeiger nach links in Richtung Fahrbahnmitte hin eingeordnet, was einen Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO darstellt. Dies hat der Kläger nach eigenem Bekunden auch wahrgenommen. Zudem fehlte eine Mittelmarkierung als Orientierungshilfe; der Versicherungsnehmer der Beklagten konnte so nicht eindeutig erkennen, ob er innerhalb seiner Fahrspur fuhr, und der Kläger konnte nicht erkennen, ob ihm die gesamte Breite der Gegenfahrspur zum Überholen zur Verfügung stand. Unter Berücksichtigung aller Umstände war das Überholen in dieser Situation unzulässig. Der Kläger durfte aufgrund der zuvor wahrgenommenen Unsicherheiten in der Fahrweise des Beklagtenfahrzeuges, dem Verkehrsverstoß beim Einordnen zum Abbiegen sowie den örtlichen Gegebenheiten (relativ schmale Fahrbahn ohne Mittelmarkierung) nicht mit einem gefahrlosen Überholen rechnen. Aufgrund des fehlerhaften Einordnens nach links war außerdem ungewiss, wie sich der Versicherungsnehmer weiter verhalten würde. Gerade durch das vorausgegangene Einordnen nach links bestand die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass das Beklagtenfahrzeug vor dem Abbiegen – wie geschehen – noch weiter nach links ausholen würde. Es handelt sich um ein zwar unzulässiges, aber gleichwohl weit verbreitetes Phänomen, vor dem Rechtsabbiegen in Einfahrten nach links auszuholen. Denkbar bei einem Einordnen zur Mitte bei Reduzierung der Geschwindigkeit wäre auch ein falsches Blinken nach rechts bei beabsichtigtem Abbiegen nach links.

Ob im Überholen bei relativ geringem Platz und Abstand zugleich ein weiterer Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 4 StVO (ausreichender Seitenabstand) liegt, fällt aufgrund des Verstoßes gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO nicht beträchtlich ins Gewicht und kann dahinstehen.

Im Rahmen der bei einer Kollision zweier Kraftfahrzeuge gemäß §§ 17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 3 StVG gebotenen Abwägung ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231, 232; OLG Dresden, Urteil vom 25.02.2020, 4 U 1914/19, Juris Rn. 4 m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze führt die Abwägung vorliegend zu der eingangs genannten Haftungsverteilung von 40 % zu 60 % zulasten des Klägers. Die zuvor aufgeführten Verursachungs- und Verschuldensanteile sind entweder unstreitig oder nach Durchführung der Beweisaufnahme als erwiesen anzusehen. Sie sind auch jeweils mitursächlich für den Unfall gewesen. Zulasten der Beklagten wirken dabei die Verstöße gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO, § 9 Abs. 5 StVO und ggf. § 9 Abs. 1 S. 4 StVO. Und zulasten des Klägers greifen die Verstöße gegen § 1 Abs. 2, § 5 Abs. 3 Nr. 1 und § 5 Abs. 4a StVO. Der Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Klägers im Rahmen seines unzulässigen und rücksichtslosen Überholmanövers überwiegt dabei den Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Versicherungsnehmers der Beklagten. Den Versicherungsnehmer der Beklagten traf zwar der verschärfte Haftungsmaßstab des § 9 Abs. 5 StVO, wonach man sich beim Abbiegen in ein Grundstück so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Verstoß hiergegen führt in der Regel zu einer beträchtlichen Mithaftung oder auch einer alleinigen Haftung des Abbiegenden. Allerdings wiegt das unzulässige und gefährliche Überholen des Klägers unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO demgegenüber noch schwerer. Dies gilt jedenfalls unter Berücksichtigung der begleitenden Umstände. Dem Versicherungsnehmer der Beklagten ist zugute zu halten, dass er ordnungsgemäß und rechtzeitig nach rechts geblinkt und seine Geschwindigkeit frühzeitig reduziert hat. Ihn trifft lediglich die Haftung aus dem fehlerhaften Einordnen und dem weiteren Linksschwenk vor dem Abbiegen, was sich allerdings als nachvollziehbares und häufig zu beobachtendes Manöver darstellt, um leichter in eine enge Grundstückseinfahrt zu fahren. Es handelte sich offenbar nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme um die ständige Übung des Versicherungsnehmers, ohne dass es dabei vorher jemals zu Problemen gekommen wäre. Das Verhalten des Klägers war hingegen über das bloße – unzulässige – Überholmanöver hinaus gefährlich und rücksichtslos. Das Überholen erfolgte aus einem zu geringen Abstand heraus, ohne Ankündigung durch Blinken, unter starker Beschleunigung und mit geringem Seitenabstand. Und abgesehen davon war das Überholen an der konkreten Stelle in der konkreten Situation auch vollkommen unverständlich und unnötig. Nur wenige Meter weiter und wenige Sekunden später wäre das Beklagtenfahrzeug abgebogen und der Weg für den Kläger frei gewesen.

Die Abwägung unter Würdigung aller Umstände führt vorliegend dazu, dass die Beklagte zu einer Mithaftungsquote von 40 % und der Kläger zu einer überwiegenden Haftungsquote von 60 % für die Folgen des Unfalls einzustehen haben.

Soweit die Beklagte ausführt, der Kläger sei aufgrund seines unzulässigen Überholens nicht in den Schutzbereich von § 9 Abs. 5 StVO einbezogen, weil die Vorschrift allein dem rechtmäßig fließenden Verkehr diene und nicht demjenigen, der bei unklarer Verkehrslage überhole (Schriftsatz vom 26.10.2023, Bl. 71 f. eA), findet dies keine Stütze in der hierzu zitierten Literatur und Rechtsprechung. Ein unzulässiges Überholen erschüttert allenfalls den gegen den Abbiegenden sprechenden Anscheinsbeweis (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Auflage 2023, § 9 Rn. 44). Vorliegend kommt es jedoch nicht auf die Beweislast an, weil die jeweiligen Verkehrsverstöße feststehen. Der nachfolgende Verkehr bleibt auch im Falle eines eigenen, auch schuldhaften Verursachungsanteils vom Schutzbereich des § 9 Abs. 5 StVO erfasst; ein eigener Verkehrsverstoß oder sonstiger Verursachungsbeitrag des nachfolgenden Fahrzeugführers fließt – wie vorstehend erfolgt – nach den allgemeinen Grundsätzen in die Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG ein.

Hinsichtlich der Anspruchshöhe ist im Ausgangspunkt den Ausführungen und Zahlen des Landgerichts zu folgen. Danach sind Reparaturkosten in Höhe von 5.307,04 € (netto) ersatzfähig. Gegen die vom Sachverständigen Dipl.-Ing. X ermittelte Schadenshöhe sind keine Einwendungen erhoben worden. Die Problematik der zunächst nicht mitgeteilten Altschäden führt vorliegend nicht dazu, dass dem Kläger keinerlei Ansprüche gegen die Beklagte zustehen. Es handelt sich dabei nicht um einen typischen Unfallschaden, sondern eher um Gebrauchsspuren (zerkratzte Felgen, kleinerer Lackkratzer mit allenfalls geringfügiger Delle, Lackauftrag am Spiegelgehäuse), die jedenfalls vom streitgegenständlichen Unfallschaden gut abgrenzbar sind. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts wird verwiesen. Die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung, die auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats entspricht, ist deshalb nicht einschlägig. Insoweit ist das landgerichtliche Urteil nicht zu beanstanden. Der Kläger kann auch die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden (bei tatsächlicher Reparatur anfallende MwSt., Nutzungsausfall) verlangen, freilich nur zur Quote von 40 % und nur für die vom Sachverständigen als unfallbedingt anerkannten Schäden. Auch die Kosten des vorgerichtlich eingeholten Schadensgutachtens in Höhe von 948,43 € sind – anteilig – ersatzfähig. Die Unfallkostenpauschale beläuft sich nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nur auf 20,00 € (statt 25,00 wie vom Landgericht angenommen). Die Beklagte hat dem Kläger danach 40 % von (5.307,04 € + 948,43 € + 20,00 € =) 6.275,47 € zu ersetzen, mithin 2.510,19 €. Hinzu kommen vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten auf diesen Streitwert in Höhe von 453,87 € (RVG bis 31.12.2020, 1,3-fache Geschäftsgebühr + Auslagenpauschale + MwSt). Die Beträge sind wie vom Landgericht ausgeführt gemäß §§ 286 Abs. 1, 288 BGB seit dem 12.06.2020 (Hauptforderung) bzw. gemäß §§ 291, 288 BGB seit dem 18.10.2020 (Nebenforderung) zu verzinsen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Quote entspricht dem Verhältnis des Obsiegens zum Unterliegen im jeweiligen Rechtszug unter Berücksichtigung des Feststellungsinteresses. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, § 543 Abs. 2 ZPO. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Es handelt sich um eine Entscheidung im Rahmen einer Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG im Einzelfall unter Anwendung der hierzu entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung.

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